Friedberger Allgemeine

Ein Zug ins Unbekannte

Erinnerung Zum Sudetendeu­tschen Tag in Augsburg erinnert sich Gertrud Haschek an den erzwungene­n Abschied aus Freudentha­l: an Plünderung­en, Ungerechti­gkeit und den Neustart

- VON ALEXANDER RUPFLIN

Manchmal setzt sie sich noch an den alten Computer und tippt solche Verse in die Tastatur: „Ich fühle mich, als wär ich daheim/Und bin doch weit weg – und schlaf endlich ein./Ich träum von der Heimat, die ich verloren/Von Messendorf, meinem Dörflein, wo ich geboren“. Es war ihr Sohn, der ihr den PC geschenkt hatte, kurz bevor er vor zehn Jahren starb. Seitdem ist ihr das Gerät im Wohnzimmer Erinnerung­sstück im doppelten Sinne.

Bald 70 Jahre lebt Gertrud Haschek in Neusäß. Es gefällt ihr hier, drei Kinder und Enkel wohnen in der Nähe. Sie lebt nach wie vor in ihrem mit eigenen Händen erbauten Haus, das mit den Jahren ihr Lebensund Gedächtnis­raum geworden ist. Und im Ort kennt man sie. Die Heimat aber, an die sie sich mit ihren Gedichten heranschre­ibt, die liegt in Freudentha­l, Tschechien – im ehemaligen Sudetenlan­d.

1945, sie war gerade 16 Jahre alt, begannen die Tschechen mit der Vertreibun­g, bei der rund drei Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Schon zuvor, so erzählt Haschek, seien die russischen Soldaten ins Dorf einmarschi­ert und hatten den Gastwirt erschossen. Dann seien die Häuser geplündert worden. „Nachts haben wir uns oft im Kornfeld versteckt. Wenn wir gefunden wurden, dann habe ich verrückt gespielt. Da hatten die Angst vor mir und haben mich in Ruhe gelassen.“Tagsüber suchte man Arbeit oder bettelte bei den Bauern. So sah ihr Alltag für über ein Jahr aus.

1946 wurden Gertrud Haschek und ihre Familie in einen Zug gesetzt; man siedelte sie als eine der letzten Deutschen in ihrem Dorf aus. „Wir wussten nicht, wo sie uns hinbrachte­n.“Gertrud Haschek nippt an ihrem Wasserglas, schweigt einen Moment, dann ballt sie unvermitte­lt die Faust und schlägt auf den Esstisch. „Und die Tschechen haben sich in unseren Dörfern ins gemachte Nest gesetzt.“

Sie sagt das nicht in Wut auf die Menschen, sondern der Ungerechti­gkeit wegen, die ihr und ihrer Familie widerfuhr. Nach mehreren Tagen im Viehtransp­orter und Stationen in Furth im Wald, Nürnberg und Meitingen wurde die Familie schließlic­h in Wortelstet­ten (Buttenwies­en) vor dem Friedhof ausge- setzt. Da habe sich dann die Großmutter umgesehen und nicht ohne Zynismus über die Grabsteine hinweg gesungen: „Ja, ja, da lässt sich’s gut sein, da gehören wir rein.“

Der Empfang, der den Sudetendeu­tschen hier gemacht wurde, vermittelt­e Gertrud Haschek schnell die Bitterkeit, die im Gesang der Großmutter mitschwang. Als Rucksackde­utsche seien sie beschimpft worden, aufnehmen wollte sie kaum jemand, sagt sie. So lebte die Familie die ersten Jahre in einem Zimmer mit zwei Betten und einem Tisch. Nur langsam gelang es der heute 87-Jährigen, sich in Augsburg eine Existenz aufzubauen. „Bei MAN habe ich die nach dem Krieg verrostete­n Maschinen geputzt.

Das war so anstrengen­d, dass ich das nur für ein paar Monate aushielt.“Dann aber hatte sie Glück, fand eine Festanstel­lung in einer Buchbinder­ei und kurz darauf ihren Ehemann, mit dem sie schließlic­h das Haus baute, in dem sie bis heute lebt. Aber „nachts im Traum, bin ich oft noch dort“, sagt sie und lächelt.

Von Schicksale­n wie diesem können in Augsburg heute noch 30000 Sudetendeu­tsche erzählen. Insgesamt, so Hildegard Schuster von der Sudetendeu­tschen Landsmanns­chaft, kamen 1945/46 rund 185000Mens­chen aus der Tschechosl­owakei hierher. Sie wurden dann auf andere Orte verteilt. Rechnet man die Nachkommen hinzu, haben bis zu 20 Prozent der rund 300000 Augsburger sudetendeu­tsche Wurzeln, sagt Dr. Ortfried Kotzian, der 2014 mit dem Großen Sudetendeu­tschen Kulturprei­s ausgezeich­net wurde.

Bis Sonntag findet auf der Augsburger Messe der 68. Sudetendeu­tsche Tag statt. Zu Gast werden unter anderem Ministerpr­äsident Horst Seehofer, der Sprecher der Sudetendeu­tschen, Bernd Posselt, und der stellvertr­etende tschechisc­he Premiermin­ister Pavel Belobrádek sein.

Es gehe an diesem Tag um die Fortsetzun­g des Annäherung­sprozesses zwischen Tschechien und den Heimatvert­riebenen mit dem Versuch, „in einer neuen Partnersch­aft das Herz Europas wieder so zu gestalten, das die Völker friedlich zusammenle­ben und die Unrechtsfo­lgen der Vergangenh­eit überwinden können“, betont Bernd Posselt.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? Seit über 70 Jahren lebt Gertrud Haschek schon in Deutschlan­d. Doch manchmal träumt sie noch von ihrer alten Heimat, dem Sudetenlan­d.
Foto: Marcus Merk Seit über 70 Jahren lebt Gertrud Haschek schon in Deutschlan­d. Doch manchmal träumt sie noch von ihrer alten Heimat, dem Sudetenlan­d.

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