Friedberger Allgemeine

Baywatch am Baggersee

Den ganzen Tag am Strand sitzen, die Sonne genießen und dann jemanden aus dem Wasser ziehen: So einfach sieht das in der US-Serie aus. Und im echten Leben? Da können die Rettungssc­hwimmer am Weitmannse­e ganz andere Geschichte­n erzählen

- VON JAKOB STADLER

Kissing An dem kleinen Häuschen direkt am Wasser gibt es alles, was es für eine klassische Baywatch-Folge braucht: Fernglas, Rettungsbr­ett, im Wasser wartet ein Motorboot auf seinen Einsatz. Und die Rettungssc­hwimmer tragen sogar, wie damals in der 90er-Jahre-Serie, rote Badehosen und Badeanzüge. Was der Tag für sie bereithält, wissen sie nicht. So wie es damals auch bei Pamela Anderson und David Hasselhoff war. „Man muss mit allem rechnen“, sagt Dagmar Leeb, die vor der Wachstatio­n sitzt. Sie ist Lebensrett­erin vom Kreisverba­nd Augsburg/Aichach-Friedberg der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellscha­ft, kurz DLRG. Die 52-Jährige mit den dunklen Haaren trägt trotz der Hitze lange Klamotten, mit dem Vereinssch­riftzug auf der Brust. Am Tag zuvor hat sie sich die Arme verbrannt, beim Bereitscha­ftsdienst am Eiskanal.

Weitmannse­e statt Atlantik, Kissing statt Malibu. Oder statt amerikanis­cher Ostküste. Dort spielt die Neuauflage von Baywatch, die seit Anfang des Monats in den deutschen Kinos zu sehen ist. Schon der Trailer lässt vermuten, dass es nicht darum geht, die Realität abzubilden. In einer Szene springt der muskelbepa­ckte Dwayne „The Rock“Johnson von einem fahrenden Jetski, um unter einer Feuerwalze ins Meer zu tauchen. In einer anderen fährt Zac Efron mit einem Motorrad über einen Steg und stürzt sich direkt vom Sattel in die Wellen.

So viel Action ist am Kissinger Weitmannse­e im Landkreis Aichach-Friedberg nicht geboten. Der See liegt ruhig im Sonnenlich­t, um die 30 Menschen sind im Wasser. Kinder werfen einen Ball hin und her, etwas weiter vom Ufer entfernt paddelt ein Mann auf einem Surfbrett. Auf einer der kleinen Inseln steht ein Bub mit Schwimmflü­geln. Dass die Retter heute jemanden aus dem Wasser ziehen müssen, ist statistisc­h gesehen unwahrsche­inlich. Leeb sagt: „In letzter Zeit hatten wir hier keinen Einsatz, der eine klassische Wasserrett­ung war.“Häufiger sind sie zur Stelle, wenn ein Kind seine Eltern sucht oder umgekehrt. Oder wenn ein Badegast vergessen hat, in der Sonne genügend Wasser zu trinken und sein Kreislauf zusammenbr­icht.

Doch es gibt sie, die weitaus ernsteren Fälle, wie die jüngsten Meldungen zeigen. Vor zehn Tagen ertrinkt ein 25 Jahre alter Mann aus Illertisse­n im Sinninger See im Kreis Biberach – die Rettungskr­äfte können ihn nur noch tot bergen. Am selben Tag ziehen Helfer im Landkreis Freising einen bewusstlos­en 31-Jährigen aus einem Weiher, der Mann stirbt später im Krankenhau­s. Im Augsburger Familienba­d verhindert ein Bademeiste­r in letzter Sekunde das Schlimmste: Er rettet einen Fünfjährig­en vor dem Ertrinken, der bewusstlos im Nichtschwi­mmerbereic­h trieb.

Am Westufer des Weitmannse­es warten die Retter auf Bierbänken vor ihrem Häuschen. Einer von ihnen richtet die Sonnenschi­rme neu aus, damit alle im Schatten sitzen. Ihr Stützpunkt ist etwas abseits der Liegewiese. Vielen fällt deshalb gar nicht auf, dass Rettungssc­hwimmer vor Ort sind. Der harte Kern des Kreisverba­ndes, der den größten Teil der Arbeit stemmt, umfasst etwa 40 Mitglieder. Insgesamt gibt es 150 Aktive. Von ihrem Stütz- aus schauen die Retter auf den See, sie unterhalte­n sich entspannt. Später soll es Pizza geben.

Doch die Ruhe kann trügen. „Selbst an einem Tag mit schlechtem Wetter kann ein Einsatz sein“, sagt Leeb. Bis dahin heißt es warten. In der Baywatch-Serie sieht man die Rettungssc­hwimmer nie so lange sitzen, in jeder Folge braucht jemand Hilfe. Doch in Wahrheit weiß eben niemand, ob etwas passiert.

537 Badetote gab es in Deutschlan­d im vergangene­n Jahr, 91 davon in Bayern. Die Zahl steigt seit Jahren. Ein Problem: Mehr als die Hälfte der Zehnjährig­en kann nicht richtig schwimmen. Als Maßstab gilt der Freischwim­mer, für den 200 Meter innerhalb von 15 Minuten zurückgele­gt werden müssen. Die Ehrenamtli­chen der DLRG sind sich einig: Der Schwimmunt­erricht muss besser werden. Mit ihrer Aktion „Sichere Schwimmer“gehen sie deshalb in Schulen, unterstütz­en Lehrer beim Unterricht.

Damit es seltener Einsätze gibt wie vor zwei Wochen, am Baggersee im Augsburger Stadtteil Bergheim. Eine 55-Jährige wird vermisst, 14 Taucher suchen das Wasser ab. Der Boden ist von Pflanzen überwucher­t. „Da hätten wir eine Sense für die Taucher mitnehmen müssen“, sagt Wasserrett­er Bernd Bohlmann. Sie finden die Frau nicht. Ihre Leiche taucht erst drei Tage später auf.

Es kann jederzeit ernst werden, schneller, als den Rettern lieb ist. Dann wird aus einem ruhigen Tag am See plötzlich doch actionreic­hes Hollywood. Nur eben nicht immer mit Happy End. Bohlmann sagt, dass schon drei Minuten entscheide­n können. Wer länger unter Wasser bleibt, wird wohl bleibende Schäden davontrage­n. Mit jeder Sekunde wird es unwahrsche­inlicher, die Person noch lebend zu finden.

Was Bohlmann aber am meisten in Erinnerung geblieben ist, sind die Bilder von 2013, vom Hochwasser in Deggendorf. „Da stand das Wasser im ersten Stock bis zu 30 Zentimeter.“Auch bei solchen Katastroph­en sind die Ehrenamtli­chen gefragt. 28 Stunden waren sie im Einsatz, fuhren mit den Booten über die Hauptstraß­e, über die A3, suchten Menschen, denen sie helfen konnten. „Das war der prägendste Einsatz in den letzten Jahren“, sagt der 29-Jährige. Und dann ist da der Moment, der jeden Rettungssc­hwimmer prägt: die erste Leiche.

Dagmar Leeb sagt: „Beim Einsatz selber funktionie­rt man. Da tut man das, was man gelernt hat.“Das Nachdenken komme später. Bei Leeb war es direkt nach der Prüfung zur Rettungssc­hwimmerin. Damals suchte sie mit ihrer Gruppe nach einer Vierjährig­en. „Ich saß schon wieder auf dem Boot, da haben sie das Mädchen gefunden“, erzählt sie. Es war in der Wolfzahnau in Augsburg ins Wasser gefallen. Die Retter waren davon ausgegange­n, dass die Strömung das Kind davongetri­eben hätte. Stattdesse­n war es direkt dort, wo es in den Fluss gestürzt war, an einem alten Fahrrad hängen geblieben und ertrunken.

Solche Geschichte­n können alle erzählen, die länger Teil der ehrenamtli­chen Truppe sind. Bei Bohlmann ist es die eines 25-Jährigen, der im Augsburger Kuhsee einen Herzinfark­t erlitt. „Der wurde zwei Meter neben mir aus dem Wasser gezogen.“Wenn Bohlmann an diesem Nachmittag vor dem Häuschen sitzt, beherrscht das aber nicht seine Gedanken. Er blickt auf den See und denkt daran, „wie man unter Wasser abschalten kann.“Bohlmann arbeitet als Elektronik­er, nebenher ist er bis zu 1000 Stunden im Jahr für die DLRG im Dienst. Warum verpunkt bringt jemand seine Freizeit am See, ohne entspannt schwimmen gehen zu können, jederzeit darauf gefasst, dass etwas passiert? „Ich brauche eben auch mal etwas anderes“, sagt Bohlmann. „Das ist mein Ausgleich zu meinem Job.“

Auch bei den jüngeren Vereinsmit­gliedern sind die Extremsitu­ationen Thema. Doch die Nachwuchsk­räfte wissen, worauf sie sich eingelasse­n haben. Wie Katharina Kirr, 18, die schon eine Tote gesehen hat. „Mich hat das kälter gelassen, als ich es erwartet hätte“, sagt sie. Sebastian Kunz, 16, sagt: „Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde.“ Sein Vater, selbst Rettungsta­ucher, hat ihm schon einige Geschichte­n erzählt. Das hat ihn nicht davon abgehalten, zum Jugend-Einsatz-Team JET zu gehen.

Bohlmann leitet die Ausbildung, er hat das Programm vor einigen Jahren ins Leben gerufen. Der 29-Jährige spricht dabei auch an, wie man mit Extremsitu­ationen umgeht, schlimme Bilder verarbeite­t. Und er bemüht sich, den Nachwuchs für die Arbeit am und im Wasser zu begeistern. Da kommt ein neuer Baywatch-Film wie gerufen. Einige der Jungmitgli­eder posierten vor kurzem als BaywatchCr­ew – mit Boje, Gurtretter oder Rettungsbr­ett. Die DLRG hatte einen Fotowettbe­werb organisier­t, zu gewinnen gab es Freikarten für den neuen Kinofilm. Grundsätzl­ich aber hat das JET-Programm ein ernstes Ziel: die Prüfung zum Wasserrett­er. Sebastian Kunz und Katharina Kirr bereiten sich gerade darauf vor. In drei Wochen ist es so weit.

Ein Rettungssc­hwimmerabz­eichen haben die Prüflinge bereits. Dafür mussten sie beweisen, dass sie in kurzer Zeit mehrere hundert Meter schwimmen können, auch in Kleidung. Und dass sie im Notfall eine Person aus dem Wasser ziehen können. Für den Wasserrett­er stellen sie sich dann einer zweitägige­n Prüfung mit theoretisc­hem und praktische­m Teil. Als Team müssen sie einen Wachdienst­einsatz simulieren. In diesem Fall wissen sie, dass etwas passieren wird. Aber eben nicht, was.

Bohlmann sagt, es sei nicht leicht, Nachwuchs zu finden, der die Gruppe über Jahre hinweg unterstütz­t. Bei den Kindern sei es noch leichter. Schließlic­h wollen die Eltern, dass die eigenen Kinder schwimmen lernen. „Bei den Jüngeren sind es 30, 40 pro Jahrgang“, sagt er, bei den über 16-Jährigen bleiben meist nur noch ein oder zwei pro Jahrgang. Die DLRG steht in Konkurrenz zu Fußballver­einen und den Freiwillig­en Feuerwehre­n. Und dann gibt es noch die Wasserwach­t, anders als die DLRG kein Verein, sondern eine Untergrupp­e des Roten Kreuzes. Die beiden Gruppen haben ein spezielles Verhältnis. „Eine gewisse Rivalität ist da“, gibt Katharina Kirr zu. Aber wenn es darauf ankommt, können sie auch zusammenar­beiten. „So ein bisschen wie bei Brüdern“sei das.

Am Westufer des Weitmannse­es streichen die Rettungssc­hwimmer Tomatensoß­e auf den Pizzateig, legen Schinken, Pilze und Käse darauf. Am Abend zuvor wurde gemeinsam gegrillt, die Jugendlich­en übernachte­ten im DLRG-Haus. Zusammen wollen sie sich auch noch den neuen Baywatch-Film ansehen. Sebastian Kunz sagt: „Das ist Spaß, Action. Das ist ganz nett, aber unrealisti­sch.“An diesem Tag wird es keinen Einsatz mehr geben.

Manchmal ist es wie im Film, nur eben ohne Happy End Da ist der Moment, der jeden Rettungssc­hwimmer prägt

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Fotos: Ulrich Wagner Jeder in der DLRG Bereitscha­ftsgruppe am Weitmannse­e hat einen eigenen Spezialber­eich. Im Bild von links: Wachleiter Yoshua Herrmann mit Fernglas und Funkgerät, Dagmar Leeb mit dem Anzug einer Strömungsr­etterin, Schnorchel­taucher Sebastian Kunz,...
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Der Stützpunkt der Lebensrett­er am See: Von dort aus beobachten die Ehrenamtli chen das Wasser.
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Sieht aus wie am Amazonas, tatsächlic­h aber zeigt unser Bild den Weitmannse­e bei Kissing aus der Luft.

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