Was passiert, wenn man die 110 wählt?
Pro Jahr gehen in Augsburg fast 100 000 Notrufe ein. Die Beamten müssen rasch entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Ein Polizist war damit überfordert. Vor Gericht sagt er, für die Kommunikation nicht geschult worden zu sein
Es ist Sommer. Für die Beamten in der Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums bedeutet das: Sie haben jetzt viel Arbeit. Schönes Wetter, warme Temperaturen und die langen Tage lassen die Zahl der Notrufe und der damit verbundenen Einsätze regelmäßig nach oben schnellen. Es sind mehr Menschen draußen, deshalb passiert auch mehr. Voriges Jahr gingen im Juni rund 8700 Notrufe unter der 110 ein. Rekordmonat war der Juli mit fast 10 000 Anrufen.
Die Beamten in der Einsatzzentrale haben eine wichtige Aufgabe: Sie müssen in kurzer Zeit jeden Anruf einsortieren – ist die Sache dringend, kann sie noch etwas warten oder ist es gar kein Fall für die Polizei? Würde auf jeden Anruf auch ein Einsatz folgen, dann wären die Polizeistreifen hoffnungslos überlastet. Dazu kommen regelmäßig Anrufer, die meinen, sie müssten sich einen Scherz erlauben. Es gilt aber die Regel: Im Zweifel wird eine Streife geschickt. Ein heute 53-jähriger Not- rufbeamter hat sich daran nicht gehalten. Er hat einen 16-Jährigen abgewimmelt, der auf einem Skateplatz in Stadtbergen von anderen Jugendlichen bedroht worden ist. Er glaubte dem jungen Anrufer nicht und weigerte sich, eine Streife zu schicken. Das Opfer wurde brutal zusammengeschlagen. Wegen des Falles muss der Beamte nun eine Geldstrafe in Höhe von 3000 Euro zahlen. Seit in der Sache gegen den Oberkommissar ermittelt wurde, sitzt er nicht mehr am Notruf. Er arbeitet derzeit als Funksprecher. Das heißt, er hält Kontakt zwischen der Einsatzzentrale und den Streifen.
Die Zahl der Anrufe, die beim Polizeinotruf in Augsburg eingehen, ist groß. Voriges Jahr wurden rund 99000 Telefonate geführt. Die Beamten müssen im Schnitt rund 270 Notrufe pro Tag annehmen. Wobei die Zahl stark schwankt. Der Rekordtag war mit über 400 Anrufen im Vorjahr der 22. Juli – ein Freitag mit Sommerwetter. In der Regel sitzen je zwei Beamte gleichzeitig am Notruftelefon, bei Bedarf kann auch der Schichtleiter helfen. Die Zentrale befindet ich im Gebäude des Präsidiums an der Gögginger Straße. Sie ist mit modernster Technik und schusssicheren Scheiben ausgestattet. Das Gebiet, das die Zentrale abdeckt, ist groß: Es umfasst Stadt und Kreis Augsburg, sowie die Kreise Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries. Fast 900000 Menschen leben hier. Meist reicht die Besetzung aus. Es kann aber auch vorkommen, dass man als Anrufer erst in der Warteschleife landet.
Bei der Polizei heißt es, man bevorzuge für die Einsatzzentrale erfahrene Beamte, die eine Situation schnell einschätzen und am Telefon klar und bestimmt sprechen können. Der jetzt verurteilte 53-jährige Oberkommissar galt als geeigneter Kandidat, als er sich für eine Stelle dort bewarb. Ein Vorgesetzter sagt über ihn, er habe ihn als einen „erfahrenen Kollegen mit gutem Wissen“kennengelernt. Sein Ton sei „eigentlich immer angemessen“gewesen. Der Beamte selbst wusste jedoch schon im Jahr 2010, als er sich von der Verkehrspolizei in die Einsatzzentrale versetzen ließ, dass er Schwierigkeiten im Umgang mit den Bürgern hat. Er habe sich selbst beobachtet und festgestellt, dass er auf Streifenfahrten häufiger gereizt und aufbrausend reagierte. Deshalb habe er sich nach einer Stelle umgesehen, bei der er nicht mehr auf die Straße raus muss. Allerdings kam er so in eine Position, in der er ständig Kontakt zu Bürgern hatte – wenn auch nur per Telefon.
Im Prozess vor dem Landgericht fragte der Richter den Polizisten, ob er speziell für die Arbeit am Notruf geschult worden sei. Der Beamte sagt, es habe zwar eine Einweisung in die Technik gegeben. Eigene Schulungen in Sachen Kommunikation habe er aber nicht erhalten. Eine Anfrage unserer Zeitung, wie die Beamten auf die Aufgabe vorbereitet werden, ließ die Polizei zunächst unbeantwortet. Der Fall des 16-jährigen Jugendlichen war nicht der einzige Anruf, bei dem sich der Beamte falsch verhalten hat. Vor Gericht räumte er ein, dass er zu der Zeit, im Frühjahr 2016, von einem Vorgesetzten angesprochen wurde, weil es Beschwerden über ihn gab. Es sei um „Ton“und „Wortwahl“gegangen, berichtete ein Beamter aus dem Präsidium vor Gericht.
Dem 16-jährigen Anrufer hatte der Notrufbeamte gesagt, es daure mindestens eine halbe Stunde, bis eine Streife kommen könne. Tatsächlich prüfte er die Verfügbarkeit der Streifen gar nicht, sonst hätte er gesehen, dass eine Besatzung einsatzbereit in der Wache saß. Die Angabe der 30-Minuten-Wartezeit sei nichts Besonderes, verteidigte sich der Polizist. Das sei bei ihm und den Kollegen eine Standardantwort, um Anrufer loszuwerden, bei denen man einen Einsatz nicht für nötig hält, oder bei dem es aus Sicht der Zentrale keinen Grund zu Eile gibt. Im Landgerichts-Prozess äußerte der Richter Verständnis, dass es bei der Vielzahl der Notrufe zu falschen Einschätzungen kommen könne. Das Verhalten des Beamten sei aber „mehr als eine Fehleinschätzung“gewesen. »Kommentar