Friedberger Allgemeine

Was passiert, wenn man die 110 wählt?

Pro Jahr gehen in Augsburg fast 100 000 Notrufe ein. Die Beamten müssen rasch entscheide­n, was wichtig ist und was nicht. Ein Polizist war damit überforder­t. Vor Gericht sagt er, für die Kommunikat­ion nicht geschult worden zu sein

- VON JÖRG HEINZLE

Es ist Sommer. Für die Beamten in der Einsatzzen­trale des Polizeiprä­sidiums bedeutet das: Sie haben jetzt viel Arbeit. Schönes Wetter, warme Temperatur­en und die langen Tage lassen die Zahl der Notrufe und der damit verbundene­n Einsätze regelmäßig nach oben schnellen. Es sind mehr Menschen draußen, deshalb passiert auch mehr. Voriges Jahr gingen im Juni rund 8700 Notrufe unter der 110 ein. Rekordmona­t war der Juli mit fast 10 000 Anrufen.

Die Beamten in der Einsatzzen­trale haben eine wichtige Aufgabe: Sie müssen in kurzer Zeit jeden Anruf einsortier­en – ist die Sache dringend, kann sie noch etwas warten oder ist es gar kein Fall für die Polizei? Würde auf jeden Anruf auch ein Einsatz folgen, dann wären die Polizeistr­eifen hoffnungsl­os überlastet. Dazu kommen regelmäßig Anrufer, die meinen, sie müssten sich einen Scherz erlauben. Es gilt aber die Regel: Im Zweifel wird eine Streife geschickt. Ein heute 53-jähriger Not- rufbeamter hat sich daran nicht gehalten. Er hat einen 16-Jährigen abgewimmel­t, der auf einem Skateplatz in Stadtberge­n von anderen Jugendlich­en bedroht worden ist. Er glaubte dem jungen Anrufer nicht und weigerte sich, eine Streife zu schicken. Das Opfer wurde brutal zusammenge­schlagen. Wegen des Falles muss der Beamte nun eine Geldstrafe in Höhe von 3000 Euro zahlen. Seit in der Sache gegen den Oberkommis­sar ermittelt wurde, sitzt er nicht mehr am Notruf. Er arbeitet derzeit als Funksprech­er. Das heißt, er hält Kontakt zwischen der Einsatzzen­trale und den Streifen.

Die Zahl der Anrufe, die beim Polizeinot­ruf in Augsburg eingehen, ist groß. Voriges Jahr wurden rund 99000 Telefonate geführt. Die Beamten müssen im Schnitt rund 270 Notrufe pro Tag annehmen. Wobei die Zahl stark schwankt. Der Rekordtag war mit über 400 Anrufen im Vorjahr der 22. Juli – ein Freitag mit Sommerwett­er. In der Regel sitzen je zwei Beamte gleichzeit­ig am Notruftele­fon, bei Bedarf kann auch der Schichtlei­ter helfen. Die Zentrale befindet ich im Gebäude des Präsidiums an der Gögginger Straße. Sie ist mit modernster Technik und schusssich­eren Scheiben ausgestatt­et. Das Gebiet, das die Zentrale abdeckt, ist groß: Es umfasst Stadt und Kreis Augsburg, sowie die Kreise Aichach-Friedberg, Dillingen und Donau-Ries. Fast 900000 Menschen leben hier. Meist reicht die Besetzung aus. Es kann aber auch vorkommen, dass man als Anrufer erst in der Warteschle­ife landet.

Bei der Polizei heißt es, man bevorzuge für die Einsatzzen­trale erfahrene Beamte, die eine Situation schnell einschätze­n und am Telefon klar und bestimmt sprechen können. Der jetzt verurteilt­e 53-jährige Oberkommis­sar galt als geeigneter Kandidat, als er sich für eine Stelle dort bewarb. Ein Vorgesetzt­er sagt über ihn, er habe ihn als einen „erfahrenen Kollegen mit gutem Wissen“kennengele­rnt. Sein Ton sei „eigentlich immer angemessen“gewesen. Der Beamte selbst wusste jedoch schon im Jahr 2010, als er sich von der Verkehrspo­lizei in die Einsatzzen­trale versetzen ließ, dass er Schwierigk­eiten im Umgang mit den Bürgern hat. Er habe sich selbst beobachtet und festgestel­lt, dass er auf Streifenfa­hrten häufiger gereizt und aufbrausen­d reagierte. Deshalb habe er sich nach einer Stelle umgesehen, bei der er nicht mehr auf die Straße raus muss. Allerdings kam er so in eine Position, in der er ständig Kontakt zu Bürgern hatte – wenn auch nur per Telefon.

Im Prozess vor dem Landgerich­t fragte der Richter den Polizisten, ob er speziell für die Arbeit am Notruf geschult worden sei. Der Beamte sagt, es habe zwar eine Einweisung in die Technik gegeben. Eigene Schulungen in Sachen Kommunikat­ion habe er aber nicht erhalten. Eine Anfrage unserer Zeitung, wie die Beamten auf die Aufgabe vorbereite­t werden, ließ die Polizei zunächst unbeantwor­tet. Der Fall des 16-jährigen Jugendlich­en war nicht der einzige Anruf, bei dem sich der Beamte falsch verhalten hat. Vor Gericht räumte er ein, dass er zu der Zeit, im Frühjahr 2016, von einem Vorgesetzt­en angesproch­en wurde, weil es Beschwerde­n über ihn gab. Es sei um „Ton“und „Wortwahl“gegangen, berichtete ein Beamter aus dem Präsidium vor Gericht.

Dem 16-jährigen Anrufer hatte der Notrufbeam­te gesagt, es daure mindestens eine halbe Stunde, bis eine Streife kommen könne. Tatsächlic­h prüfte er die Verfügbark­eit der Streifen gar nicht, sonst hätte er gesehen, dass eine Besatzung einsatzber­eit in der Wache saß. Die Angabe der 30-Minuten-Wartezeit sei nichts Besonderes, verteidigt­e sich der Polizist. Das sei bei ihm und den Kollegen eine Standardan­twort, um Anrufer loszuwerde­n, bei denen man einen Einsatz nicht für nötig hält, oder bei dem es aus Sicht der Zentrale keinen Grund zu Eile gibt. Im Landgerich­ts-Prozess äußerte der Richter Verständni­s, dass es bei der Vielzahl der Notrufe zu falschen Einschätzu­ngen kommen könne. Das Verhalten des Beamten sei aber „mehr als eine Fehleinsch­ätzung“gewesen. »Kommentar

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Archivfoto: Anne Wall Blick in die Einsatzzen­trale der Augsburger Polizei: Wenn das Wetter schön und warm ist, gehen besonders viele Notrufe hier ein. Pro Tag sind es im Schnitt rund 270.

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