Diese Bücher verraten viel über Kissing
Im Kirchenarchiv werden Aufzeichnungen aufbewahrt, die teilweise mehrere hundert Jahre alt sind. Sie eröffnen den Blick in eine Zeit, in welcher der Pfarrer auch die Schulnoten vergab
Kissing Mesner Oliver Kosel hält einen fast 150 Jahre alten Brief in der Hand. Oben steht in großen Lettern: Seine königliche Majestät von Bayern. „So etwas gefällt mir sehr“, sagt Kosel und lächelt. Der Brief vom Februar 1874 ging im Namen König Ludwig II. an die LokalSchul-Inspektion in Kissing. Dahinter verbarg sich die Schulleitung und damit der Pfarrer, weil die Geistlichen bis 1918 das Amt parallel ausführten. Vorsichtig legt Kosel den Brief wieder in eine Akte und verstaut sie in einem großen Schrank im Kissinger Kirchenarchiv.
Auf den ersten Blick wirkt der Raum im Pfarreikomplex am St.Bernhard-Platz unspektakulär. In der Mitte ein langer weißer Tisch, an den Seiten hohe Büroschränke mit grauen Türen. Doch dahinter verbergen sich schriftliche Schätze, die teilweise mehrere hundert Jahre alt sind: Messbücher, liturgische Schriften, Unterlagen zur Armenund Krankenfürsorge, jede Menge Bauaufzeichnungen und Zensurbücher.
Lokalhistoriker Hanns Merkl kennt sich gut aus im Archiv. Er erklärt, dass es im Mittelalter lange Zeit keine Aufzeichnungen gab. Erst ab 1548 wurde von oberster kirchlicher Stelle die Erstellung von Pfarrmatrikeln angeordnet. Dort wurden unter anderem Taufen, Hochzeiten und Sterbefälle eingetragen. Allerdings setzte sich die Anordnung erst nach und nach durch. Das Problem: Viele Pfarrer konnten kein Latein. „Die waren damals nicht so gut gebildet wie heute“, sagt Merkl. Das älteste erhaltene Pfarrmatrikel aus Kissing stammt aus dem Jahr 1609. Heute liegt es in Augsburg im Diözesanarchiv. In den 1980er- und 90er-Jahren entschied das Bistum, die Unterlagen aus allen Pfarreien zentral zu sammeln.
In Kissing sind aber noch viele Unterlagen erhalten geblieben. In früheren Zeiten wurden sie im Pfarrhof in Alt-Kissing aufbewahrt. Mit dem Bau des heutigen Pfarrbüros 1958 mussten sie auch aus den Räumen heraus. Jedoch war zu dieser Zeit nur wenig Platz vorhanden. Daher wurden die alten Bücher und Akten in einem Dachraum über der Garage untergebracht. „Das waren natürlich keine idealen Bedingungen“, sagt Kosel. 1999 wurde dann der jetzige Archivraum eingerichtet. Der Mesner zeigt ein Messbuch von 1759 mit einem schweren Einband aus Leder und kunstvoll verzierten Seiten. Darin ist genau erfasst, wie die Messe zu bestimmten Kirchenfesten zu halten war. Selbstverständlich alles auf Latein.
Anhand von Kirchenrechnungen von 1669 bis 1684 rekonstruierten Kosel und Merkl, wer an der Burgstallkappelle mitgewirkt hat. Zum Beispiel fanden sie heraus, dass ein Kissinger namens Süßmeier die Wände des Kirchenjuwels damals mit Stuck versah. Beim Auswerten von Bauunterlagen sammelten sie wichtige Erkenntnisse für die Ausstellung zum Weihejubiläum von St. Bernhard im Mai.
In einem Zensurbuch von 1837 hat der damalige Pfarrer Schülerbewertungen festgehalten. Noten gab es im Lesen, Schönschreiben, aber auch in der Vaterlandskunde. Über einen Schüler schreibt der Pfarrer: „Es scheint, er habe gute Talente, obwohl er nicht fleißig ist.“Später heißt es: „Leider ist der Knabe sich selbst überlassen und hat nur einen alten Vater, deshalb tut er, was er will.“
Kissings Pfarrer Alfredo Quintero vergibt heutzutage keine Schulnoten mehr. Er ist aber stolz, dass er die alten Schriften in seiner Pfarre hat. „Sie erhalten die Wurzeln, die Geschichte und die Identität“, sagt er. Die Gemeinde könne ihre Ursprünge nachvollziehen. „Um in die Zukunft schauen zu können, müssen wir auch in die Vergangenheit schauen.“Allerdings vermisst Lokalhistoriker Merkl ein paar alte Schriften. Er kann sich noch gut erinnern, dass er eine Chronik ab 1893 in den 1980er-Jahren in den Händen hielt. „Der Pfarrer hatte darin genau aufgezeichnet, was im Dorf passierte.“
Als im vergangenen Jahr ein Experte von der Uni Augsburg die Unterlagen im Archiv sortierte und katalogisierte, tauchte die Chronik nicht mehr auf. Wohin sie verschwunden ist, weiß niemand.