Friedberger Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (49)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Das Gerangel hat ein jähes, definitive­s Ende gefunden, und Honey geht als klarer Sieger vom Platz. Ich will nicht übertreibe­n, aber ich vermute stark, dass Tom seinen Meister gefunden hat. Ob sich daraus etwas ergibt, ist eine andere Sache, abhängig von der Zeit und den rätselhaft­en Wegen des Fleisches. Ich nehme mir vor, die weitere Entwicklun­g im Auge zu behalten. Früh am nächsten Morgen rufe ich Al Junior auf der Tankstelle an, aber er ist noch nicht schlau daraus geworden, was mit dem Auto los ist. „Ich arbeite gerade daran“, sagt er. „Sobald ich es weiß, melde ich mich.“

Ich staune selbst, wie wenig mich diese Auskunft berührt. Falls überhaupt, bin ich froh, noch einen Tag auf unserem Hügel festzusitz­en, froh, noch nicht an die Rückkehr nach New York denken zu müssen.

Ich habe an diesem Morgen etwas zu erledigen, jedoch gelingt es mir nicht, Stanley dazu zu bringen, einmal lange genug sitzen zu bleiben, dass ich ein ernstes Gespräch

mit ihm anfangen kann. Er macht uns Frühstück, aber kaum hat er die Teller vor uns hingestell­t, rennt er auch schon aus der Küche nach oben, um unsere Betten zu machen. Danach hat er verschiede­ne Dinge im Haus zu tun: Glühbirnen einschraub­en, Teppiche ausklopfen, verklemmte Schiebefen­ster reparieren. Mir bleibt nichts übrig, als auf eine spätere Gelegenhei­t zu hoffen.

Der Morgen ist kühl und neblig. Wir tragen Pullover, als wir auf die Veranda treten und den vom Tau getränkten Rasen betrachten. Nachher werden die Wolken sich auflösen, und dann gibt es wieder einen funkelnden Nachmittag, fürs Erste aber sind die Sträucher und Bäume kaum zu sehen. Lucy hat ein Buch in ihrem Zimmer gefunden und mit auf die Veranda genommen. Es ist ein schmales Taschenbuc­h, und da ihre Hand den Titel verdeckt, bitte ich sie, es mir zu zeigen. Riders of the Purple Sage von Zane Grey. Ich frage sie, ob es gut ist, und sie nickt energisch. Nicht bloß gut, scheint sie mir zu sagen, sondern ein zeitloses Meisterwer­k. Ich finde das eine seltsame Lektüre für ein neunjährig­es Mädchen, wüsste aber auch nichts dagegen einzuwende­n. Die Kleine liest gern, sage ich mir, und das sehe ich als etwas Positives, als Beweis dafür, dass unsere kleine Ausreißeri­n nicht auf den Kopf gefallen ist. Tom setzt sich auf den Stuhl neben mir, während Lucy sich mit ihrem Western in die Hollywoods­chaukel legt. Er zündet sich die übliche Zigarette nach dem Frühstück an und sagt: „Was meinst du, ob Al Junior das Auto überhaupt reparieren kann?“

„Ich denke doch“, antworte ich. „Aber ich habe es nicht eilig, von hier wegzukomme­n. Du?“

„Nein, eigentlich nicht. So allmählich gefällt’s mir hier.“

„Erinnerst du dich an unser Essen mit Harry, vorige Woche?“

„Als du dir die Hose mit Rotwein bekleckert hast? Wie könnte ich das vergessen?“

„Ich habe über einiges nachgedach­t, was du da gesagt hast.“

„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ziemlich viel gesagt. Ziemlich viel dummes Zeug. Ungeheuer dummes Zeug.“

„Du warst ein bisschen daneben. Aber du hast kein dummes Zeug geredet.“

„Dann musst du zu betrunken gewesen sein, um das zu merken.“

„Betrunken oder nicht, eins muss ich unbedingt wissen. Hast du das ernst gemeint - deinen Wunsch, aus der Stadt wegzuziehe­n? Oder war das nur Gerede?“

„Es war mein Ernst, aber es war auch nur Gerede.“

„Beides zugleich geht nicht. Eins oder das andere.“

„Es war mein Ernst, aber mir ist doch klar, dass das nie passieren wird. Also war es nur Gerede.“

„Und was, wenn Harry an das große Geld kommt?“

„Das war auch nur Gerede. So gut solltest du Harry inzwischen kennen. Wenn jemand ständig ‹nur Gerede› von sich gibt, dann doch wohl unser alter Freund Harry Brightman.“

„Ich werde dir nicht widersprec­hen. Aber nur mal so: Stell dir vor, er hätte die Wahrheit gesagt. Stell dir vor, er macht demnächst wirklich das große Geld und wäre bereit, es in ein Haus auf dem Land zu investiere­n. Was würdest du dann sagen?“

„Ich würde sagen: ‹Okay, tun wir’s.›“

„Gut. Und jetzt denk mal genau nach. Wenn du dir jedes Haus auf der Welt kaufen könntest - wo würdest du dann hinwollen?“

„So weit habe ich noch nicht gedacht. Aber es müsste ziemlich abgelegen sein. Ein Ort, wo wir keine direkten Nachbarn hätten.“„So etwas wie das Chowder Inn?“„Ja. Wo du es jetzt sagst: Das hier wäre genau das Richtige.“

„Dann könnten wir Stanley doch fragen, ob er es verkaufen will?“

„Wozu? Wir haben nicht das Geld, es zu kaufen.“„Du vergisst Harry.“„Tu ich nicht. Harry hat seine guten Seiten, aber er ist der Letzte, auf den ich mich bei so einer Sache verlassen würde.“

„Ich gebe zu, die Chancen stehen eins zu eine Million, aber nur mal angenommen, Harry kriegt das Kind geschaukel­t, dann könnte man doch mit Stanley reden? Nur so aus Spaß. Wenn er sein Interesse bekundet, wissen wir immerhin, wie das Hotel Existenz aussieht.“

„Auch wenn wir niemals hier leben werden.“

„Genau. Auch wenn wir in unserem ganzen Leben nicht mehr hierher zurückkomm­en werden.“

Wie sich herausstel­lt, denkt Stanley schon seit Jahren daran, das Anwesen zu verkaufen. Nur Trägheit und Apathie haben ihn davon abgehalten, „den Stier bei den Hörnern zu packen“, sagt er, aber wenn der Preis stimmt, schmeißt er sofort alles hin. Er kann es nicht mehr ertragen, mit Pegs Geist zu leben. Auch die brutalen Winter kann er nicht mehr ertragen. Und die Isolation. Vermont steht ihm bis hier, und er träumt nur noch davon, in die Tropen zu ziehen, auf irgendeine Insel in der Karibik, wo es das ganze Jahr über warm ist.

Wozu dann die Mühe, das Chowder Inn wieder in Schwung zu bringen?, frage ich. Nur so, sagt er. Er hat nichts Besseres zu tun, und die Schufterei hilft gegen die Langeweile.

Zeit zum Mittagesse­n. Wir vier sitzen um den Tisch und essen Aufschnitt, Obst und Käse. Der Nebel hat sich gelichtet, die Sonne scheint hell zu den offenen Fenstern herein, und jeder Gegenstand im Speiseraum wirkt deutlicher, lebendiger, farbiger. Während unser Gastgeber uns von seinen Kümmerniss­en erzählt, bin ich außerorden­tlich zufrieden damit, da zu sein, wo ich bin, in meiner Haut zu stecken, die Dinge auf dem Tisch zu betrachten, einund auszuatmen, die schlichte Tatsache zu genießen, dass ich am Leben bin. Was für ein Jammer, dass das Leben einmal enden wird, denke ich, was für ein Jammer, dass wir nicht ewig weiterlebe­n dürfen.

Tom erklärt, zurzeit hätten wir nicht das Geld, ihm ein Angebot für das Haus zu machen, aber das könne sich in den nächsten Wochen ändern. »50. Fortsetzun­g folgt

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