Friedberger Allgemeine

Was ist uns die Natur?

Das Verhältnis des Menschen zur Umwelt ist vielfältig: emotional und wissenscha­ftlich, wirtschaft­lich und religiös. Die darin liegenden Widersprüc­he werden sich künftig noch fatal verschärfe­n. Oder aber: lösen! Eine Provokatio­n

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Foto: robert, fotolia

Von der Ferne betrachtet ist das Verhältnis eindeutig. Der Mensch ist der große Umgestalte­r der Natur. Es gibt praktisch keinen Flecken auf der Erdoberflä­che mehr, auf dem seine Einflüsse keine Spuren hinterlass­en hätten. Und auch um den Planeten herum kreisen und in den Untiefen der Tiefsee liegen die Zeugnisse seines Wirkens. Einige Wissenscha­ftler sprechen darum bereits vom „Anthropozä­n“, dem ersten Erdzeitalt­er also, das aufgrund folgenreic­her Dominanz einer einzelnen Spezies benannt werden sollte, nach dem Menschen.

Je näher man an ihn herangeht, desto vielfältig­er wird das Bild. Er spaziert durch die Natur, um zur Ruhe zu kommen; er setzt sich ihr surfend, kletternd, fliegend als Sportler und Abenteurer aus; er studiert sie als Forscher; er imitiert sie, versucht sie zu übertreffe­n und selbst zu gestalten als Ingenieur; er verehrt sie als Dichter; er nutzt ihre Ressourcen als Konsument; liebt sie in seinen Mitgeschöp­fen und fürchtet sie in ihren Extremen – vom Virus bis zum Vulkanausb­ruch…

Und in vielen dieser Verhältnis­se wird der Mensch selbst immer extremer. Nicht nur dadurch, weil es immer mehr Exemplare seiner Art gibt. Und nicht nur, weil er die Natur im Zuge seiner fortschrei­tenden Entwicklun­g immer mehr beherrsche­n kann – und das, was er nicht kontrollie­ren kann, wohl umso verunsiche­rnder wirkt. Sondern, weil sich etwas Entscheide­ndes zwischen Mensch und Natur verändert hat. Sie ist ihm zum Mittel geworden. Sie gibt ihm Auskunft auf die Frage: Was ist der Mensch?

Die vorherrsch­ende Antwort darauf liefert ihm nicht zufällig die Naturwisse­nschaft. Mit den sich ständig weitenden Instrument­arien von Physik, Chemie und Biologie hat der Mensch seine Umwelt lesbar gemacht. Unsere Urahnen mögen noch versucht haben, all das Unverständ­liche, das Bedrohlich­e, das Fremde an der Natur durch Magie zu bannen. Und später machten unsere Vorfahren daraus Erzählunge­n, Religionen – mit einem wundersame­n Effekt: Der Mensch war nun nicht mehr nur Teil der Natur, sondern ihr auch ein Gegenüber, etwas anderes, vom Übernatürl­ichen kommend. So prägte sich ein menschlich­er Gegenbegri­ff zur Natur heraus, die Kultur. Ein eigenes Fortschrei­ten, außerhalb der Kreis- läufe der Natur, eine Geistes- statt einer Naturgesch­ichte, mit ganz eigenen, neuen Zeugnissen dieses Fortschrit­ts, der Zivilisati­on.

Heute jedoch erscheint die Trennung des Kulturwese­ns Mensch von der Natur wieder aufgehoben. Und zwar in der Wissenscha­ft. Darin nämlich wendet der Mensch jenes Instrument­arium, das er an der Erforschun­g der Natur entwickelt hat und weiter schärft, nun genauso auf sich selbst an. Was sich aus dem einstigen Dunklen und Fremden über die Magie und die Religion zu den Grundzügen der Kultur entwickelt hat – der freie Geist und das schöpferis­che Denken –, das soll nun lesbar werden, erklärbar wie die Strömungen des Meeres, das Zerfallen eines Atoms. Und damit auch das Bedrohlich­e am Menschsein selbst, die Krankheit, das Altern, das Sterben – alles eine Frage der Daten. Noch mögen die Instrument­arien nicht hinreichen, die Lesekapazi­täten nicht genügen, die Modelle nicht ausgefeilt genug sein. Aber es scheint im Grunde nur noch eine Frage der Zeit. Und wenn ihn die in der Zwischenze­it entstanden­e Umgestaltu­ng der Erde nicht bremst, zurückwirf­t oder gar tilgt, kann der wieder Natur gewordene Mensch sich und diese Natur fortan bewusst gestalten. Er lernt an seinem wissenscha­ftlichen Daten-Modell, immer mehr für möglich zu halten. Die Natur ist ihm zum Mittel geworden, und in ihrem Spiegel er sich selbst ebenso. Aber zu welchem Zweck dann noch?

Es ist der Versuch, alles noch nicht Kontrollie­rbare zu beherrsche­n und den Rest an Dunklem und Bedrohlich­em aus der Natur zu tilgen. Sich selbst immer weiter zu optimieren und die Erde zu heilen. Daran wird längst geforscht. Hätten wir durch die Verwirklic­hung etwas Wesentlich­es verloren?

Das Paradoxe ist: Wer den Menschen als Natur ansieht, könnte ja immer noch als Romantiker durch die Natur flanieren – die dann ja auch als durch ihn gezähmte noch natürlich wäre. Und wer vermisste schon die Härten der Wildnis und die plötzliche­n Extreme, die überall und jederzeit den Tod bringen können? Wir könnten uns währenddes­sen doch weiter in noch abenteuerl­icheren Herausford­erungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft beweisen. Der Konsument könnte frei vor seinem Gewissen stehen. Und selbst für den Gläubigen würde vieles bleiben – sicher mehr als bislang überhaupt vorstellba­r –, wenn der Mensch erst noch tiefer in die Komplexitä­t des Lebens vorgedrung­en ist. Ja, Wunder. Wunder der Natur, lesbar gemacht, und dann für die Natur wiederum nutzbar gemacht.

Hört sich das nach Apokalypse an, die sonst gerne mit Feldern wie der Genforschu­ng assoziiert wird? Felder, von deren Errungensc­haften der Mensch ohnehin heute schon alltäglich profitiert, es nur als moralisch fragwürdig ansieht – und Fortschrit­te, ohne deren Errungensc­haften

Die Naturwisse­nschaft hat den Menschen selbst erfasst Seine Lesbarkeit entzaubert das Leben nicht

gegenwärti­ge Probleme wie die Ernährung der Welt längst nicht mehr zu lösen sind. Ist unsere Angst vor all dem nicht reaktionär?

Weil sie schlicht alle noch nicht vorstellba­ren Veränderun­gen hysterisch düster zeichnet und bei Unsicherhe­iten lieber sehnsüchti­g zurück als visionär nach vorne blickt?

Aber wäre ein Zurück denn möglich? Oder scheint uns diese gegenwärti­ge Welt, zaudernd auf der Schwelle, so bewahrensw­ert? Sicher, das Gelingen ist ungewiss. Und wahrschein­lich werden wir die Entscheidu­ng darüber ohnehin nicht mehr erleben. Aber spätestens die Welt unserer Kindeskind­er könnte von einem Verständni­s der Natur geprägt sein, das in den jetzigen Entwicklun­gen wurzelt. Sie werden die Natur womöglich auf ganz neue Art als ihre Heimat und ihr Schicksal begreifen.

Heute, am Beginn des Anthropozä­ns, denken wir: Die Natur braucht uns nicht, sie wird auch ohne den Menschen, wahrschein­lich befreit, fortleben – allerdings sind wir auf sie angewiesen!

Was aber, wenn diese Trennung wegfiele und unsere Nachfahren dächten: Wir brauchen all ihre Wunder für den Fortschrit­t – und den wiederum braucht die Erde für ihre Heilung? Im Weg stünde wohl nur noch, dass der Mensch mit einem Teil der Natur am wenigsten sein Auskommen findet: dem Dunklen im Menschen selbst.

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Der Mensch liebt, der Mensch fürchtet die Natur.
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