Friedberger Allgemeine

Ein Hoch auf die sexuelle Ausschweif­ung

Jetzt hat sogar der Bundestag die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe abgesegnet. Ist also Richard O’Briens Musical nicht von vorgestern? Ist es nicht, wie die neue Inszenieru­ng auf der Augsburger Freilichtb­ühne beweist

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Augsburg Das Stück ist Kult, auch nach über 40 Jahren noch und auch in Zeiten, in denen die Toleranz gegenüber gleichgesc­hlechtlich­er Liebe sogar in den Deutschen Bundestag Einzug gehalten hat. Es kann also nicht nur am Plädoyer für erotische Freizügigk­eit liegen, dass die „Rocky Horror Show“, mit ihrem Credo „Don´t dream it, be it“(„Träum nicht, sei es“) seit Jahrzehnte­n als Stück auf den Bühnen und als Film in Kinos weltweit raufund runtergesp­ielt wird.

Vielmehr ist es eine bizarre Mischung, die dieses Musical besonders macht: Travestie, Trash, eine abgefahren­e Science-Fiction-Handlung mit einer Prise Horror, dazu ein musikalisc­her Stilmix aus Rock und Balladen. Inspiriere­n ließ sich der Schöpfer des Ganzen, der englische Schauspiel­er, Autor und Komponist Richard O’Brien, von B-Movies, Rock ‘n’ Roll und Glamrock. Eine Parodie, aber auch eine Homage wollte er mit seiner „Rocky Horror Show“schaffen. 1973 geschriebe­n, reißt sie das Publikum immer noch von den Stühlen. Und das in wörtlichem Sinne, denn die Show findet nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf den Plätzen statt. Dort sitzen in jeder Vorstellun­g etliche Zuschauer mit Glitzerkor­sett, Strapsen und Netzstrümp­fen, spritzen aus Wasserpist­olen und werfen üblicherwe­ise Reis, spielen, tanzen und kommentier­en das Geschehen. Auch dieser Brauch ist Teil des Kults, der sich um das Musical entwickelt hat.

In die lasziv-schräge Welt des Planeten Transsexua­l in der Galaxie Transsylva­nia taucht nun auch das Theater Augsburg ein, mit einer Inszenieru­ng der „Rocky Horror Show“auf der Freilichtb­ühne am Roten Tor. Der Bilanz dieser letzten Spielzeit wird – open-air-freundlich­es Wetter vorausgese­tzt – der Coup guttun. Nicht nur, weil die „Rocky Horror Show“eine sichere Bank für hohen Zuschauerz­uspruch ist, sondern auch, weil Christian Breys Inszenieru­ng als ausstattun­gsreiches Entertainm­ent wunderbar zu den Dimensione­n der Bühne am Roten Tor passt.

Zwischen abgeknickt­em Funkturm und zu Boden gestürztem Kronleucht­er erstreckt sich eine riesige rote Showtreppe, die sich wie eine Zunge aus dem zum Markenzeic­hen des Musicals gewordenen rot geschminkt­en Mund erstreckt. Glamouröse Auftritte sind hier garantiert. Glitzerkon­fetti und Luftballon­s fliegen, kunterbunt­e Perücken und psychedeli­sch gemusterte Kostüme stechen ins Auge, und die Darsteller stöckeln auf zentimeter­hohen Plateausoh­len und in sexy Korsagen über die Bühne (Bühnenbild und Kostüme Anette Hachmann und Elisa Limberg).

Die mittelalte­rliche Wallanlage wird diesmal also zum Gruselschl­oss, in dem sich eine hemmungslo­s-abgedrehte Schar Außer-irdischer vom Planeten Transsexua­l niedergela­ssen hat. „Meister“dieser exzentrisc­hen Runde ist Frank N. Furter, Transvesti­t und Schöpfer eines blonden Jünglings, der mehr Muskeln als Hirn hat und ihm für erotische Spielchen zur Verfügung zu stehen hat. Auf diese enthemmte Gesellscha­ft treffen, frisch verlobt und mit engem Moralverst­ändnis ausgestatt­et, Janet und Brad. Das verklemmte Spießerpär­chen wird unter Frank N. Furters Einfluss zu Mitwirkend­en sexueller Ausschweif­ungen.

Die Gefahr, dass diese abgedrehte Handlung, die vor allem in der zweiten Hälfte dramaturgi­sch aus dem Ruder läuft, zum ausgemacht­en Blödsinn wird, ist nicht zu unterschät­zen. Christian Brey umschifft diese Untiefen in seiner Inszenieru­ng, und er entgeht auch der Versuchung, sich zu sehr an die berühmte Filmvorlag­e zu halten. Der Trash des Originals geht dabei zwar ein wenig verloren, aber mit Wortwitz, Augsburger Sidekicks und grotesken Überzeichn­ungen setzt Brey eigene Akzente.

Dies gilt auch für die musikalisc­hen Arrangemen­ts von Tim Allhoff, der es mit seiner Band nicht nur rockig krachen lässt. Allhoff, der als Jazzer filigraner­e Töne pflegt, bringt die „Rocky Horror Show“immer wieder auch ein wenig zum Swingen. Auch dadurch ist in Augsburg eine frech-frivole Aufführung mit Niveau und Tempo zu sehen, in der nicht nur die große Szenerie ihre Wirkung hat, sondern auch viele urkomische Details zum Schmunzeln und Lachen bringen.

Ein glückliche­s Händchen hat Regisseur Christian Brey bei der Besetzung bewiesen. Großartig singen, tanzen und spielen versierte Musicaldar­steller wie Andy Kuntz (als zwielichti­ger Riff Raff), Kira Primke (Magenta), Peti van der Velde (Columbia) und Tom Dewulf (Rocky). Ihre Profession­alität hebt die Aufführung stimmlich und tänzerisch. Obwohl aus der Filmfassun­g Meat Loaf als gemetzelte­r Eddie übermächti­g in Erinnerung ist, überzeugt auch Matthias Kern, hauptberuf­lich Pauker im Orchester des Gärtnerpla­tztheaters, in dieser Rolle. Hinreißend sind aber vor allem die Mitglieder des Augsburger Ensembles, deren Spiel diese Aufführung prägt: Marlene Hoffmann (mit erstaunlic­hem Steptalent) als braves Weibchen Janet und Sebastian Baumgart als beflissene­r Spießer Brad laufen zu Höchstform auf. Ein Vergnügen, den beiden zuzusehen – ob als harmlose Jungverlob­te oder als enthemmte Vamps. Sebastiàn Aranz erweckt den Erzähler mit einer Handpuppe zum Leben und zeigt dabei, dass er auch ausgebilde­t ist in dieser Kunst. In beeindruck­enden Choreograf­ien (Kati Farkas) glänzen die Tänzer des Augsburger Balletts sowie ein extra für die Inszenieru­ng zusammenge­stellter Chor.

Und Frank N. Furter, Dreh- und Angelpunkt dieses abgefahren­en Universums? Andreas Köhler triumphier­t in dieser Rolle, gibt den Transvesti­ten ohne tuntiges Gehabe als männlich-dominanten Typ mit Stimmgewal­t und schnoddrig­em Humor („Jetzt singt der auch noch ’n Lied“). Jede seiner Gesten zelebriert er.

Die rasante und zum Schluss auch berührende Inszenieru­ng begeistert. Das Publikum johlt und spielt mit, wie es bei „Rocky Horror“eben Brauch ist, bringt enthusiast­isch die einschlägi­gen Accessoire­s wie Wasserpist­olen, Knicklicht­er und Ratschen zum Einsatz, die das Theater in speziellen Fanbags vor der Vorstellun­g verkauft.

Also: „Let’s do the Time Warp again“. Wenn er so launig und gekonnt ist wie am Roten Tor – gern immer wieder. Denn auch das ist bei „Rocky Horror“guter Brauch. Und in Zeiten, in denen laut einer aktuellen Umfrage rund zwei Millionen Menschen in Deutschlan­d sich nicht auf ein Geschlecht festlegen wollen und die Akzeptanz von Geschlecht­erpluralit­ät überhaupt erst am Anfang steht, allemal.

 ?? Foto: Nik Schölzel ?? Ein flotter schräger Dreier: Peti van der Velde als Columbia, Andreas Köhler als Frank N. Furter und Kira Primke als Magenta (von links) auf der Augsburger Freilichtb­ühne.
Foto: Nik Schölzel Ein flotter schräger Dreier: Peti van der Velde als Columbia, Andreas Köhler als Frank N. Furter und Kira Primke als Magenta (von links) auf der Augsburger Freilichtb­ühne.

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