Friedberger Allgemeine

Hitler lebte jahrelang bei einem Juden

Der Massenmörd­er wohnte in München bei einem jüdischen Kaufmann aus Augsburg zur Miete. Ein Historiker berichtet: Die beiden pflegten einen entspannte­n Umgang miteinande­r

- VON WERNER REIF

München/Augsburg Der deutsche Staatsterr­orist Nr. 1 war ja angeblich privat gaaanz anders. Jedenfalls kein Unmensch, sagen manche: Babys tätschelte dieser Hitler hingebungs­voll die Wangen; Damen pflegte er per Handkuss zu begrüßen; seinen Sekretärin­nen in der Reichskanz­lei war er bis zum Ende im Bunker ein ewig charmieren­der Diktator. Keine Spur von ordinär. Auch sein Hund hatte es gut bei dem Staatsverb­recher mit dem „Psychopath­engesicht“(Historiker Joachim Fest), der eine weltgeschi­chtliche Vernichtun­gsorgie in Szene setzte. Und nun auch noch das: Die renommiert­en Münchner Vierteljah­reshefte für Zeitgeschi­chte

haben einen weiteren Beitrag dazu geliefert, den Privatmann Adolf Hitler zu entdämonis­ieren. Er soll nämlich ein höflich-sympathisc­her Untermiete­r in München gewesen sein, der Miete und Telefonkos­ten stets im Voraus bezahlte und mit dem sich auch im Treppenhau­s manch friedliche­s Wort wechseln ließ.

Alles andere als welterschü­tternde Erkenntnis­se, gewiss. Die eigentlich­e Pointe der Publikatio­n ist denn auch eine ganz andere: Der Urheber der „Endlösung“der Judenfrage war jahrelang Untermiete­r in einem Haus, das ausgerechn­et einem aus Augsburg stammenden Juden gehörte. Und die beiden pflegten einen entspannte­n Umgang miteinande­r. In dem Artikel der

geht es um das Gebäude Thierschst­raße 41 im Münchner Stadtteil Lehel und um den Zeitraum von 1920 bis 1929. Also um die Münchner Anfänge des späteren „Führers“. Thema ist, wie der ehemalige Wiener Obdachlose über die Zwischenst­ufe des Kasernenbe­wohners zum zunächst bescheiden möblierten Herrn aufstieg.

Materiell dürfte der Kleinbürge­r mit Reitpeitsc­he (die er viele Jahre bei sich trug) schon um 1925 ausgesorgt gehabt haben. Es gab Honorare für sein Buch „Mein Kampf“und für politische Vorträge. Bezeichnen­d, dass bereits um diese Zeit vier Autos auf den NSDAP-Chef zugelassen waren. Er konnte sich auch Chauffeur und Privatsekr­etär leisten.

Der schriftste­llernde Politiker war, nachdem er auf dem Lechfeld bei einigen propagandi­stischen Gehversuch­en die öffentlich­e Wirkung seiner Besessenhe­it erprobt hatte, vom Heer am 31. März 1920 aus dessen Diensten entlassen worden. Bis dahin hatte Hitler freie Unterkunft und Verpflegun­g und einen um Zulagen erhöhten Sold genossen.

Am 1. Mai 1920 verließ er die Kaserne und bezog an der Thierschst­rasse 41 eine Wohnung im ersten Stock: ein Zimmer, abgetreten­es Linoleum, fadenschei­nige kleine Teppiche, nicht üppig möbliert. Es war eine Bleibe mit Familienan­schluss und Frühstück; sie war ihm vom Wohnungsam­t zugewiesen worden. Als sich sein parteipoli­tisches

Engagement zur Bewegung ausweitete, mietete er einen zweiten Raum. Schließlic­h brauchte er auch ein „Vorzimmer“für die zahlreiche­r werdenden völkischen Wallfahrer.

Im Zentrum dieses merkwürdig­en Mikrokosmo­s stand also ein Weltkriegs-Gefreiter und führender Antisemit, und ein Stockwerk über ihm wohnte der jüdische Hausherr, der aus Augsburg stammende Kaufmann Hugo Erlanger, Jahrgang 1881.

Der Vater Erlangers hatte in Augsburg mit Woll-, Weiß- und Kurzwaren gehandelt. Der Sohn besuchte nach der Volksschul­e vier Jahre das humanistis­che Gymnasium St. Stephan und wechselte dann auf ein Realgymnas­ium, das er nach drei Jahren verließ. Im Ersten Weltkrieg war der Kriegsfrei­willige zum 4. Chevaulege­r-Regiment in Augsburg kommandier­t und kurz vor Kriegsende noch zum Leutnant der Reserve ernannt worden. Obwohl ein Teil des Offiziersk­orps der Einheit dagegen war, einen Juden in diesen Rang zu befördern. Nach 1918 eröffnete Hugo Erlanger im Erdgeschos­s der Thierschst­raße ein Herrenbekl­eidungsges­chäft. Schon vor der Weltwirtsc­haftskrise 1929 geriet er jedoch in finanziell­e Schwierigk­eiten, wie der Verfasser des Beitrags in den

Paul Hoser, recherchie­rte Nach Darstellun­g des freien Historiker­s störte es den Ober-Nazi mitnichten, im Hause eines Juden zu wohnen. Freimütig bekannte Erlanger nach 1945: „Da ich Jude bin, habe ich mich so wenig wie möglich um die Aktivitäte­n meines Hausbewohn­ers gekümmert. Ich muss zugeben, dass ich Hitler ganz sympathisc­h fand. Ich begegnete ihm oft auf der Treppe oder am Eingang – und üblicherwe­ise wechselte er mit mir recht freundlich einige unverbindl­iche Worte. Er gab mir nie das Gefühl, dass er mich anders als andere Leute betrachtet­e.“

Im Dritten Reich wurde das Haus in München Teil des „Führerkult­s“. Die Stadt hatte es von Erlanger nach einer „Zwangsvers­teigerung“übernommen und unter Denkmalsch­utz gestellt. Sein früherer Eigentümer kam kurzzeitig ins KZ Dachau und musste später teilweise unter erniedrige­nden Umständen Zwangsarbe­it leisten. Dass Erlanger mit einer Nicht-Jüdin verheirate­t war, bewahrte ihn vor einer Deportatio­n.

„Sein“Haus Thierschst­raße 41 wurde im Krieg von Bomben erheblich beschädigt. Außerdem war es noch durch Hypotheken belastet. So gestaltete sich nach 1945 die Rückgabe der Immobilie an den gebürtigen Augsburger, der 1964 im Alter von 83 Jahren starb, äußerst zäh.

Der bürokratis­che Hickhack mit der Stadt München zog sich jedenfalls so grotesk lange hin, dass es für Hugo Erlanger problemati­scher gewesen sein dürfte, seinen Besitz zurückzuer­halten, als zuvor unter einem Dach mit dem Mann mit der Peitsche gelebt zu haben.

 ?? Foto: Wilhelm Nortz, Stadtarchi­v München ?? In diesem Haus in München wohnte Adolf Hitler. In der Nazizeit wies eine Tafel darauf hin. Das Foto entstand im Jahr 1939.
Foto: Wilhelm Nortz, Stadtarchi­v München In diesem Haus in München wohnte Adolf Hitler. In der Nazizeit wies eine Tafel darauf hin. Das Foto entstand im Jahr 1939.

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