Hamburg im Ausnahmezustand
Der Gipfel der Mächtigen hat noch nicht begonnen. Aber in der ganzen Stadt ist die Nervosität zu spüren. Ein Staatschef nach dem anderen schwebt ein. Der Verkehr bricht zusammen. Und am Abend kommt es zu den befürchteten Ausschreitungen
Hamburg Ausgerechnet den Mann, der der versammelten Weltpresse Auskunft über den schwierigen Einsatz der Polizei in Hamburg am Vorabend des G20-Gipfels geben soll, können die eigenen Kollegen nicht schützen: Während Polizeisprecher Timo Zill im Bereich der Hafenstraße im Szenestadtteil St. Pauli ein Interview gibt, werden er und ein weiterer Polizeibeamter plötzlich von vermummten Unbekannten massiv bedrängt und attackiert. Wie die Polizei am Donnerstagabend kurz nach 20 Uhr weiter mitteilt, mussten sich Zill und sein Begleiter in einen Rettungswagen flüchten. Die Täter schlugen auf die Tür des Sankas ein und versuchten, diese mit Gewalt zu öffnen. Mit Blaulicht und Martinshorn fuhr der Rettungswagen schließlich davon. Zill übersteht den Angriff unverletzt.
Die Lage rund um den Fischmarkt ist chaotisch. Tausende Einsatzkräfte der Polizei sind unterwegs, Barrikaden brennen, erste Autos sind in Flammen aufgegangen, die Straße ist mit Scherben übersät. Kurz zuvor hatte die Polizei den Demonstrationszug der linksautonomen Szene aufgelöst, zu dem sich unter dem Motto „Welcome to Hell“– Willkommen in der Hölle – geschätzte 12 000 Gipfel-Kritiker in Richtung des Messezentrums aufgemacht hatte. Unter den Demonstranten zahlreiche Vermummte – auf bis zu 1000 gewaltbereite Linksextremisten schätzt die Polizei den berüchtigten „schwarzen Block“.
Der Zug kommt nicht weit. Als die Einsatzleitung die Maskierten auffordert, ihre Vermummung abzulegen, fliegen Steine und Flaschen auf die Polizisten. Beamte werden mit Latten angegriffen. Mit Pfefferspray und Wasserwerfern versucht die Polizei, den schwarzen Block vom Rest der Demonstration zu trennen. Es kommt zu Tumulten, Menschen gehen zu Boden, andere flüchten seitlich über eine Kaimauer in Richtung Elbe.
Nach der Auflösung der Demo wird die Situation völlig unübersichtlich. Grüppchen aggressiver Demonstranten verteilen sich in die Straßen der Hafenstadt. Im Stadtteil Altona werden die Scheiben eines Ikea-Möbelhauses und einer Sparkasse beschädigt. Auf der berüchtigten Amüsiermeile Reeperbahn zieht die Polizei massive Kräfte zusammen – die Einsatzleitung berichtet von Angriffen auf Beamte und Sachbeschädigungen, auf die auch mit Wasserwerfern reagiert werde.
Vermummte rüsten sich mit Gerüstteilen und Steinen für die Straßenschlacht. Wie viele Menschen verletzt worden sind, wie viele Personen festgenommen wurden, das kann die Polizei zunächst nicht sagen. Zwischenzeitlich ist von sechs verletzten Beamten die Rede, die vor allem von Flaschen getroffen wurden. Es soll nach Angaben aus Kreisen der Demonstranten zahlreiche Verletzte geben – auch von Schwer- verletzten ist die Rede. Bei Einbruch der Dunkelheit rüstet sich die Polizei für eine turbulente Nacht.
Stunden zuvor: Auf der „Mö“wird noch hektisch gehämmert und gesägt. Zimmerleute und Schreiner bereiten die Läden und Kaufhäuser auf Hamburgs Einkaufsmeile Mönckebergstraße auf die befürchteten Ausschreitungen linksextremistischer Chaoten vor. „Da helfen nur die ganz dicken Platten“, sagt ein Handwerker, der die breiten Schaufensterfronten der Backsteinfassade von Galeria Kaufhof vernagelt. Passgenau nehmen die massiven Pressspanteile, die vor Steinen, Molotowcocktails und dem Beschuss mit Stahlkugelschleudern schützen sollen, die Form der Rundbögen auf.
Daran, dass die Proteste gegen den G20-Gipfel ohne Gewalt ablaufen werden, glaubte in der Hansestadt schon vorher kaum einer. Hamburg gilt als Hochburg der linksextremen Szene, die sich „in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber den herrschenden Verhältnissen“wähnt. So schreiben es die Organisatoren der Demonstration „Welcome to Hell“gestern Abend. „Willkommen in der Hölle“– das Motto spricht Bände. Und heute geht es weiter: Der Protestmarsch der vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppe „Roter Aufbau“mit der Devise „G20 entern – Kapitalismus versenken“macht der Polizei größte Sorgen. Dagegen bekennen sich die Organisatoren der meisten der rund 30 angemeldeten Demos zur Gewaltfreiheit. „Lieber tanz ich als G20“, sagten sich etwa die Teilnehmer einer Parade bei den Landungsbrücken in der Nacht zum Donnerstag – alles blieb friedlich.
Der Marsch gestern Abend führte vom Fischmarkt in St. Pauli bis in die Nähe des Messezentrums, in dem sich die Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer der Welt ab heute zu Gesprächen hinter verschlossenen Türen treffen. Für die Linksextremen sind die Politiker die Gesichter des verhassten Kapitalismus, den sie bekämpfen – auch mit Gewalt.
Ein Transparent an der Fassade der „Roten Flora“, eines seit 1989 von Autonomen besetzten Theatergebäudes im alternativ geprägten Schanzenviertel, ruft dazu auf, beim „schwarzen Block“mitzukämpfen. Der schwarze Block – das sind mit schwarzen Kapuzen und Tüchern vermummte Gewalttäter, die oft aus dem Schutz einer Masse von Friedlichen heraus Polizisten attackieren oder Brandsätze werfen. Laut der Hamburger Polizei leben 650 Personen in der Stadt, denen sie solche Taten zutraut. Kurz vor dem Gipfel wurden Stahlkugelschleudern, Schlagstöcke und zu tückischen Waffen umfunktionierte Feuerlöscher bei Razzien gefunden.
Wenn es jemanden gibt, den die Linksextremisten vielleicht noch mehr hassen als Merkel, Trump & Co., dann ist das Hartmut Dudde. Der Hamburger Polizeidirektor gilt als harter Hund, hat schon bei früheren Demos in Hamburg bewiesen, dass er es ernst meint, wenn er von einer „Null-Toleranz-Strategie“spricht: Wer sich vermummt, wer Böller wirft, wird aus der Masse herausgezogen.
Monatelang hat Dudde am Sicherheitskonzept für den Gipfel gefeilt, das bis zu 20 000 Polizisten, 3000 Einsatzfahrzeugen – darunter dutzenden Wasserwerfern, elf Hubschraubern, 153 Diensthunden und 62 Polizeipferden – ihren genauen Platz zuweist. Neben gewaltbereiten Autonomen müssen die Sicherheitskräfte auch mit der Möglichkeit terroristischer Anschläge rechnen – die prominenten Staatsgäste werden auch durch Spezialkräfte aus mehreren Ländern geschützt. Hinzu kommen die persönlichen Aufpasser verschiedener Staatschefs. Bereits gestern Nachmittag meldet die Polizei, dass der Verkehr in Hamburg fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Ein Zustand, der bis Samstag anhalten wird.
Auf dem Hamburger Flughafen schwebt gestern eine Staatsmaschine nach der anderen ein. Kanadas junger Popstar-Premier Justin Trudeau steigt gegen 14 Uhr aus der Regierungsmaschine. US-Präsident Donald Trump landet zwei Stunden später. Für den Weg in die Innenstadt steigen die Trumps in einen US-Hubschrauber.
Der Polizeidirektor fährt eine „Null Toleranz Strategie“