Friedberger Allgemeine

Eine Wunde, die immer noch offen ist

Jahrelang erforschte Elisabeth Kahn die Geschichte ihrer in Augsburg beheimatet­en Familie während der NS-Zeit. Daraus ist jetzt mit Schülern das Theaterstü­ck „Der zerbrochen­e Kelch“entstanden

- VON BIRGIT MÜLLER BARDORFF

Auch nach all den Jahren, auch nachdem sie sich so viel damit beschäftig­t hat, kann Elisabeth Kahn noch nicht begreifen, „wie Deutsche Deutschen dies antun konnten“. Elisabeth Kahn ist Nachfahrin einer der beiden Familien Kahn und Arnold, die Anfang des vergangene­n Jahrhunder­ts in Augsburg bedeutende Textilunte­rnehmer waren.

Zunächst hatten die Familien 1885 die Weberei am Sparrenlec­h gekauft und zu einem florierend­en Betrieb gemacht. 1923 schließlic­h erwarben sie die Mehrheit der Anteile an der wirtschaft­lich in Bedrängnis geratenen Neuen Augsburger Kattunfabr­ik (NAK) und saßen in führenden Positionen der Firma. Nicht nur wirtschaft­lich prägten die beiden Familien das Leben in der Stadt, auch sozial engagierte­n sie sich und waren gesellscha­ftlich anerkannt – bis zum Jahr 1933, als die Nationalso­zialisten die Herrschaft in Deutschlan­d an sich rissen und systematis­ch begannen, Juden zu verfolgen und schließlic­h zu ermorden.

Auch die Vorfahren von Elisabeth Kahn waren davon betroffen, denn sie stammten ursprüngli­ch aus dem Landjudent­um im Großherzog­tum Baden und dem Königreich Württember­g. Elisabeth Kahns Großvater musste auswandern, ihr Vater und ihre Onkel, die dritte Generation der Gründerfam­ilie, ebenfalls. Arthur Arnold, dem Mitbesitze­r des Familienun­ternehmens, gelang die Emigration nicht. Er starb an den Folgen medizinisc­her Versuche im KZ Dachau. Das Vermögen der Familie, privater Besitz ebenso wie die Firmenante­ile, wurden zu absurd geringen Summen aufgekauft – „arisiert“, wie es damals hieß. Es sind Worte wie dieses, die Elisabeth Kahn noch heute fassungslo­s machen, denn sie verschleie­rn das, was tatsächlic­h geschah: die systematis­che Ausgrenzun­g, den durch Gesetze legitimier­ten Raub von Besitz und Leben.

Jahrelang kannte Elisabeth Kahn die Geschichte ihrer Familie nur in Bruchstück­en. Das „Durcheinan­der der Erinnerung“wurde zu einer Belastung für sie. Das Schweigen zwi- der Familie ihres Vaters und der nichtjüdis­chen Familie ihrer Mutter war für sie als Kind und Jugendlich­e spürbar. „Man sollte nicht auffallen, sich immer bedeckt halten“, erinnert sie sich.

Der biografisc­he Anlass brachte Elisabeth Kahn dazu, sich mit dem Antisemiti­smus in der NS-Zeit zu beschäftig­en. „Es gab Menschen in meiner Nähe, die das hautnah selbst erlebt hatten, dafür musste ich keine Geschichts­bücher lesen“, erzählt sie. Dabei ging es Kahn aber nicht um eine empathisch­e Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit. Im Vordergrun­d stand das rationale Erfassen dessen, was geschehen ist, die historisch-wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng der eigenen Familienge­schichte, die auch dann noch Bestand hat, wenn die Betroffene­n selbst nicht mehr Zeugnis ablegen können. „Empathie ist dem Zufall ausgesetzt, deshalb müssen wir die Dinge kognitiv verstehen, um wirklich zu begreifen, was damals vorgefalle­n ist“, ist sie überzeugt.

Jahrelang forschte Elisabeth Kahn in den Archiven und bei Mitglieder­n der Familie. Sie trug Briefe, Urkunden, Fotografie­n, Protokolle und Berichte zusammen, die den Aufstieg und die Verfolgung der Familie Kahn dokumentie­ren und gleichzeit­ig die Mechanisme­n der systematis­chen Ausgrenzun­g und „Arisierung“offenlegen. „Man kann erkennen, wie subtil sich der Antisemiti­smus darin ausdrückt, wie die brutalen Tatsachen verharmlos­t werden“, erzählt sie. Dass der Blick dabei nicht nur auf die, die das Leid ertragen mussten, gelenkt wird, sondern vor allem auch auf die, die es verursacht haben, ist Kahn dabei sehr wichtig.

Dies zu vermitteln und dafür zu sensibilis­ieren, ist der in Berlin lebenden Erziehungs­wissenscha­ftleschen rin ein Anliegen – gerade in der Stadt, in der der Aufstieg ihrer Familie begann, aber auch ihre Ausgrenzun­g. Deshalb ist eine Auswahl der Dokumente derzeit zusammen mit Erinnerung­sstücken der Familie Teil der Ausstellun­g „Kahn & Arnold“im Staatliche­n Textilmuse­um (tim). Dokumente aus der Familienge­schichte stehen auch im Mittelpunk­t einer szenischen Collage, die Elisabeth Kahn mit ihrem Mann David Sutherland, dem Augsburger Geschichts­lehrer Wolfgang Poeppel und 15 freiwillig­en Schülern mehrerer Augsburger Gymnasien erarbeitet hat. Seit Januar haben sich die Schüler – der jüngste von ihnen ist elf Jahre alt, der älteste hat gerade Abitur gemacht – in Workshops mit diesen Dokumenten beschäftig­t. „Eine sperrige Arbeit“, gibt Elisabeth Kahn zu. Eine Arbeit, die auch mit einschloss, zu erforschen, welche Rolle eigene Familienmi­tglieder während der NS-Diktatur spielten. „Der zerbrochen­e Kelch“lautet der Titel dieser szenischen Collage, die in Zusammenar­beit mit dem Textilmuse­um entstanden ist. Dort steht in einer Vitrine ein silberner Kiddusch-Becher, ein Gefäß, in dem nach jüdischer Tradition an Feiertagen der Wein gesegnet wird. Dessen Fuß ist abgebroche­n. Ob dies den Wirren der Zeit geschuldet ist, weiß niemand. Als Metapher für die Wunde, die in der Familie Elisabeth Kahns immer noch offen ist, steht der Kelch trotzdem.

Aufführung­en von „Der zerbrochen­e Kelch“am Freitag und Samstag, 21. und 22. Juli, jeweils um 19.30 Uhr in der Brechtbühn­e. Im Anschluss gibt es ein Publikumsg­espräch mit ’Gerhard Fürmetz (Hauptstaat­sarchiv München), Karl B. Murr (Direktor des tim) und Wolfgang Poeppel (Rudolf Diesel Gymnasium)

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Ein Kiddusch Becher, in dem nach jüdischer Tradition der Wein gesegnet wurde, ist eines der Erinnerung­sstücke, die Elisabeth Kahn von ihrer Familie geblieben sind. Seine Beschädigu­ng ist Metapher für das Leid, das die Familie während der NS Zeit...
Foto: Ulrich Wagner Ein Kiddusch Becher, in dem nach jüdischer Tradition der Wein gesegnet wurde, ist eines der Erinnerung­sstücke, die Elisabeth Kahn von ihrer Familie geblieben sind. Seine Beschädigu­ng ist Metapher für das Leid, das die Familie während der NS Zeit...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany