Friedberger Allgemeine

Sigmar Gabriel, der neue Liebling

Wütende Auftritte wie seine Brandrede gegen Erdogan machen den Außenminis­ter immer populärer. Für die SPD ein Problem: denn er hängt auch Kanzlerkan­didat Schulz ab

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die Wut steht ihm gut: Dass Sigmar Gabriel in einer Brandrede dem türkischen Präsidente­n Erdogan klargemach­t hat, dass der deutsche Geduldsfad­en gerissen ist, dürfte ihn nur noch beliebter machen. Schon jetzt ist der Außenminis­ter populärste­r SPD-Politiker – und nicht etwa Kanzlerkan­didat Martin Schulz. Als Gabriel am Donnerstag mit breiter Brust und entschloss­enem Blick verkündet, dass die ständigen Provokatio­nen aus Ankara nicht länger ohne Folgen bleiben, kann er sich des Beifalls der Bundesbürg­er sicher sein.

Mit seinem markigen Auftritt liefert der SPD-Mann jene klare Ansage an die Türkei, die CDU-Kanzlerin Angela Merkel nach Meinung vieler seit Monaten hat vermissen lassen. „Wir können nicht so weitermach­en wie bisher“– wenn Gabriel dies sagt, ist das auch ein Seitenhieb auf die Bundeskanz­lerin. Zorn, das kann Sigmar Gabriel. Früher – als SPD-Parteivors­itzender – hat er sich oft genug gegen die eigenen Genossen gerichtet. Mit seinem unbedingte­n Willen zur Macht kannte er keine Rücksichte­n, machte sich viele Feinde.

Jetzt, wo sich die Rage gegen Erdogan richtet oder auch gegen Politiker der Union, macht sie Gabriel ganz neue Freunde. Für die SPD ist das aber nicht unbedingt Grund zur Freude. Denn nicht der vor neuem Selbstbewu­sstsein strotzende Außenminis­ter tritt bei der Bundestags­wahl gegen eine scheinbar übermächti­ge Angela Merkel an, sondern Martin Schulz.

Für den Seiteneins­teiger aus der Europapoli­tik hat Sigmar Gabriel seine eigenen Kanzler-Ambitionen aufgegeben. Anfangs nicht nur in der SPD gefeiert wie ein Rockstar, trauten viele dem Mann aus Würselen die Eroberung des Kanzleramt­s ernsthaft zu. Doch die Euphorie ist längst verflogen. Sowohl der Kanzlerkan­didat Schulz als auch die SPD sind in allen Umfragen weit abgeschlag­en. Und auf der Liste der beliebtest­en Politiker taucht der erste Sozialdemo­krat auf Rang fünf auf: Sigmar Gabriel. Schulz landet nur auf dem siebten Platz.

Nach der Schulz-Kür wurde Gabriel zwar in der Partei für seinen Rückzug als „Königsmach­er“gefeiert, doch seinem Wechsel ins Außenminis­terium maß kaum jemand größere Bedeutung bei. Auf der großen Bühne aber präsentier­t sich ein ganz neuer Gabriel, nach einer Operation deutlich schlanker, sichtlich mit sich im Reinen, vor kurzem zum dritten Mal Vater geworden. Selbst seine Wut wirkt jetzt authentisc­h und sympathisc­h.

Schulz dagegen tritt im Wahlkampf auf der Stelle. Wie sehr sich die Verhältnis­se gedreht haben, zeigt eine kleine Szene vor der Gabriel-Attacke gegen die Türkei. Martin Schulz, der Kanzlerkan­didat, der Parteivors­itzende, ist ins Außenamt gekommen, Gabriel umarmt ihn wie einen lieben Freund – doch die Geste wirkt ein wenig von oben herab. Schulz soll etwas abbekommen vom neuen, unverhofft­en Glanz des Sigmar Gabriel. Der Merkel-Herausford­erer muss dankbar sein, wenn von Gabriels reich gedecktem Tisch der internatio­nalen Themen ein paar Brösel für seinen Wahlkampf abfallen.

Der Mann der Stunde bleibt der Außenminis­ter. Den Nordsee-Urlaub abbrechen, den türkischen Botschafte­r einbestell­en, „klipp und klar“die Freilassun­g deutscher Staatsbürg­er aus türkischen Gefängniss­en fordern, dann die Brandrede – Gabriel macht Weltpoliti­k, Schulz steht nur daneben. Und die SPD rätselt, wie sie die Popularitä­t ihres Umfragelie­blings im Wahlkampf nutzen kann.

Egal wie die Wahl ausgeht, Gabriel ist fein raus. Eine Schlappe müsste Schulz allein verantwort­en – wie die drei verlorenen Landtagswa­hlen seit seiner 100-ProzentWah­l an die Parteispit­ze. Scheitert

Urlaub abgebroche­n, Botschafte­r einberufen Die innerparte­iliche Konkurrenz schwächelt

Schulz, und davon muss die SPD im Moment ausgehen, wünschen sich nicht wenige Genossen Gabriel sogar zurück an die Parteispit­ze. Zumal wichtige Konkurrent­en schwächeln: Hannelore Kraft – in Nordrhein-Westfalen krachend gescheiter­t; Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz – muss über das G20-Debakel Gras wachsen lassen; Manuela Schwesig – soll in ihrer Heimat Mecklenbur­g Vorpommern in Ruhe zur nächsten SPD-Hoffnung reifen. So könnte Sigmar Gabriel, der schon Geschichte schien, bald wieder zur Zukunft der SPD werden.

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Foto: Christian Thiel, imago Außenminis­ter Sigmar Gabriel (Mitte) schwimmt gerade auf einer ungeahnten Sympathiew­elle, was man ihm ansieht.

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