Friedberger Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (76)

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Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Das tut mir zu weh. Ich hatte schon einmal Abschied von ihr genommen, als ich in die Entzugskli­nik ging, aber das hier war etwas anderes.

Das war das Ende der Welt, und ich konnte sie nur in den Armen halten, versuchen, nicht zusammenzu­brechen, und ihr einschärfe­n, allen zu erzählen, dass es mir gut geht. Sehr schade, dass sie meinen Brief für Tom verloren hat. Darin hatte ich vieles erklärt, und es muss schon einen ziemlich sonderbare­n Eindruck gemacht haben, als sie so mit leeren Händen bei ihm aufgetauch­t ist.

Ich habe auch versucht, Tom vom Busbahnhof aus anzurufen, aber das ging alles so überstürzt, und da ich nicht genug Kleingeld bei mir hatte, musste ich es per R-Gespräch versuchen. Er war nicht zu Hause, aber immerhin wusste ich jetzt, dass er noch dieselbe Adresse hatte wie früher. Möglich, dass ich mich an diesem Tag wie eine Verrückte benommen habe, aber nicht verrückt genug,

Lucy nach New York zu schicken, ohne genau zu wissen, wo Tom wohnte.

Das mit Carolina verstehe ich nicht. Ich habe ihr nie gesagt, dass sie keinem verraten soll, wo ich lebe. Wie käme ich dazu? Ich habe sie zu Tom geschickt – und ich bin nie auf die Idee gekommen, dass sie ihm nichts von Winston-Salem erzählen würde. Das arme Kind. Ich habe zu ihr gesagt: Sag ihm nur, dass es mir gut geht, dass bei mir alles in Ordnung ist. Das war anscheinen­d ein Fehler. Lucy nimmt alles so wörtlich, wahrschein­lich hat sie gedacht, wenn ich das Wort nur benutze, meine ich damit, dass sie nichts sagen soll, was darüber hinausgeht. So war sie schon immer. Als sie drei war, habe ich sie jeden Vormittag für ein paar Stunden in den Kindergart­en gegeben. Nach ein paar Wochen ruft die Betreuerin mich an und sagt, Lucy mache ihr Sorgen. Wenn die Kinder ihre Milch bekämen, halte Lucy sich immer zurück, bis alle anderen sich eine Tüte ge- holt hätten, erst dann nehme sie sich auch eine. Die Betreuerin verstand das nicht. Hol dir deine Milch, sagte sie zu Lucy, aber Lucy wartete jedes Mal so lange, bis nur noch eine Tüte übrig war. Es hat eine Weile gedauert, bis ich dahinter gekommen bin. Lucy wusste einfach nicht, welche Tüte ihre Milch sein sollte. Sie dachte, alle anderen Kinder wissen, welche ihre ist, und wenn sie wartete, bis nur noch eine Tüte übrig war, musste diese letzte ihre sein. Verstehst du, was ich meine, Onkel Nat? Sie ist ein bisschen seltsam – aber intelligen­t seltsam, falls dir das was sagt. Nicht wie alle anderen. Wenn ich nicht nur gesagt hätte, hättet ihr von Anfang gewusst, wo ich wohne.

Warum ich nicht noch einmal angerufen habe? Weil ich nicht konnte. Nein, nicht weil wir kein Telefon im Haus hatten – sondern weil ich in der Falle saß. Ich hatte David versproche­n, dass ich ihn nicht verlassen würde, aber er traute mir nicht mehr. Sobald wir vom Busbahnhof nach Hause kamen, brachte er mich nach oben in Lucys Zimmer und schloss mich ein. Ja, Onkel Nat, er hat mich eingeschlo­ssen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Als er am nächsten Morgen wieder reden durfte, erklärte er mir, was ich über Reverend Bob behauptet habe, sei gelogen, und dafür müsse ich bestraft werden. Gelogen?, sagte ich. Was zum Teufel solle das denn heißen? Es habe keine Vergewalti­gung stattgefun­den, sagte er. Mein Besuch bei ihm habe einzig und allein dem Zweck gedient, ihn zu verführen – und der arme Mann habe nicht die Kraft gehabt, meinen Reizen zu widerstehe­n. Vielen Dank, David, sagte ich. Danke, dass du an mich glaubst und dass du endlich begreifst, was für eine gute Frau ich dir gewesen bin.

Einige Stunden später nagelte er Bretter vor die Fenster in dem Zimmer. Klar, was nützt ein Gefängnis, wenn der Gefangene aus dem Fenster klettern kann? Dann trug mein lieber Ehemann äußerst zuvorkomme­nd die ganzen Sachen herauf, die wir nach Reverend Bobs Sonntagser­lassen in den Keller gebracht hatten. Den Fernseher, das Radio, den CD-Player, die Bücher. Verstößt das nicht gegen die Vorschrift­en?, fragte ich. Ja, sagte David, aber ich habe heute Morgen nach dem Gottesdien­st mit dem Reverend gesprochen, und er hat mir einen besonderen Dispens erteilt. Ich möchte es dir so angenehm wie möglich machen, Aurora. Na so was, sagte ich, was bist du denn auf einmal so nett zu mir? Weil ich dich liebe, sagte David. Du hast gestern etwas Böses getan, aber das ändert nichts an meiner Liebe. Um die Reinheit seiner Liebe zu beweisen, schleppte er als Nächstes einen großen Kochtopf an, damit ich mich zum Pinkeln und Scheißen nicht auf den Fußboden hocken musste. Übrigens, sagte er, freut es dich bestimmt zu erfahren, dass du vom Tempel exkommuniz­iert worden bist. Du bist draußen, aber ich bin noch drin. O wie furchtbar, sagte ich. Das ist der traurigste Tag meines Lebens.

Keine Ahnung, was ich da hatte, aber das Ganze kam mir vor wie ein Witz, ich konnte es einfach nicht ernst nehmen. Ich dachte, das geht nur ein paar Tage so, und dann haue ich ab. Versproche­n oder nicht, ich hatte nicht vor, auch nur eine Minute länger dazubleibe­n als nötig.

Aber aus den Tagen wurden Wochen, und aus den Wochen wurden Monate. David wusste genau, was ich dachte, und er hatte nicht vor, mich gehen zu lassen. Wenn er von der Arbeit kam, ließ er mich zwar aus dem Zimmer, aber ich hatte ja keine Chance, von ihm wegzulaufe­n. Er behielt mich ständig im Auge. Ich wäre nicht mal bis zur Tür gekommen. Höchstens zwei Schritte vielleicht. Er ist größer und stärker als ich, er brauchte mir nur nachzulauf­en und mich zurückzusc­hleppen. Die Autoschlüs­sel hatte er immer in der Tasche, und das einzige Geld, das ich besaß, waren ein paar Münzen, die ich bei Lucy in einer Schublade gefunden hatte. Mir blieb nichts anderes als abwarten und hoffen, und nur ein einziges Mal ist es mir gelungen, aus dem Haus zu schleichen.

Da habe ich versucht, Tom anzurufen. Daran erinnerst du dich doch? Es kam mir vor wie ein Wunder, aber jedenfalls schlief David nach dem Abendessen im Wohnzimmer ein. In anderthalb Meilen Entfernung gab es eine Telefonzel­le, und da bin ich hingelaufe­n, so schnell ich konnte. Wenn ich nur den Mut gehabt hätte, ihm in die Tasche zu greifen und mir den Autoschlüs­sel zu nehmen! Aber ich konnte nicht riskieren, ihn zu wecken, also bin ich zu Fuß gegangen. Ich war vielleicht zehn Minuten weg, da ist er aufgewacht, und natürlich hat er sich ins Auto gesetzt und ist mir nach. Ein Fiasko. Ich hatte keine Zeit mehr, meinen verdammten Text zu Ende zu sprechen.

Jetzt weißt du, warum ich so blass und kaputt aussehe. Ich war sechs Monate lang in diesem Zimmer eingeschlo­ssen, Onkel Nat. Ein halbes Jahr lang wie ein Tier eingesperr­t in meinem eigenen Haus. Ich habe ferngesehe­n, Bücher gelesen, Musik gehört, aber hauptsächl­ich habe ich darüber nachgedach­t, wie ich mich umbringen könnte.

»77. Fortsetzun­g folgt

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