Friedberger Allgemeine

Hier nähen 4200 Menschen für Deuter

Der Gersthofer Rucksackhe­rsteller hat vor gut 25 Jahren die Fertigung nach Vietnam verlegt – ein Werksbesuc­h

- VON JOSEF REITMAYER (TEXT UND FOTOS)

Ho Chi Minh Stadt/Gersthofen Sichtlich stolz und zugleich bescheiden öffnet Thi Lan Nguyen für uns Journalist­en aus Deutschlan­d die Tür zum Wohnbereic­h ihres Hauses. Den schlichten Raum mit einer Schrankwan­d und Fernseher beherrscht ein Foto des Vaters ihres Mannes auf dem altarartig­en Tisch. Das Haus ist für die örtlichen Verhältnis­se eher stattlich: Es hat zwei Räume, in denen die 44-Jährige mit ihrem Mann und den beiden Kindern, einem 24-jährigen Sohn und einer 15-jährigen Tochter, wohnt. Das Dach überdeckt die ganze mit Wasser sauber gespritzte Veranda.

Hier wird im Freien gekocht, gegessen, gespült und gewaschen. Denn es ist fast nie unter 30 Grad warm. Sie lebt in dem ländlich strukturie­rten Vorort Cu Chi der Zehn-Millionen-Stadt Ho-ChiMinh in Vietnam, des früheren Saigon. Die Stadt am Mekong gilt als wirtschaft­liches Zentrum der sozialisti­schen Republik, die von Kolonialhe­rrschaft, Spaltung und einem furchtbare­n Krieg geschunden ist.

Seit Reformen im Jahr 2002 ist die Industriep­roduktion in dem früher fast ausschließ­lich agrarisch geprägten Land auf rund ein Drittel der Wirtschaft­skraft gestiegen. Thi Lan Nguyen arbeitet seit sieben Jahren als Näherin in einer der drei Fabriken von Vina (Vietnam) Duke, der Cu Chi Factory. Alle Beschäftig­te leben von Aufträgen von Deuter Sport aus Gersthofen. Die Rucksackma­rke hat vor mehr als 25 Jahren ihre Produktion hierher verlegt. Möglichen Vermutunge­n, dass Deuter die Fertigung in ein Billiglohn­land zur Gewinnmaxi­mierung verlagert haben könnte, beugt der ehemalige Geschäftsf­ührer Bernd Kullmann klar vor - es war seinen Angaben zufolge eine Notwendigk­eit zum Überleben des Unternehme­ns: „Als ich 1988 fürs Produkt verantwort­lich wurde, schrieb Deu- hohe Verluste. Rund die Hälfte der Rucksäcke wurde in AugsburgOb­erhausen hergestell­t, und wir verkauften sie unter Herstellun­gskosten. Deshalb musste schleunigs­t alles nach Asien verlegt werden, wo der Wettbewerb bereits seit Jahren fertigen ließ. Damit gingen 120 Jobs in der Produktion verloren, aber es blieb uns keine Wahl“, sagt Kullmann heute. Damals war er Produktman­ager und Verkaufsle­iter.

Auf der Internatio­nalen Sportartik­elmesse ISPO in München hatte Kullmann damals einen Produzente­n gefunden: „Als ich Mitte der 90er mit Duke gegenseiti­ge Exklusivit­ät wollte, hat mich das Überzeugun­gsarbeit beim Inhaber gekostet. Der damalige Inhaber S. H. Oh verstand viel von Rucksäcken. Der Preis war zweitrangi­g. Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht feilschen will und er mir den Preis nennen soll, den er braucht. Und von da an haben wir einander immer vertraut.“Wer Kullmann kennt, weiß, wie viel Vertrauen für ihn bedeutet - er hat 1978 als siebter Deutscher und jüngster Europäer mit 24 Jahren den Mount Everest bestiegen. „Vertrauen und Verlässlic­hkeit sind auch beim Bergsteige­n essenziell­e Voraussetz­ungen. Mein Leben hängt vom Seilpartne­r ab. Wenn er Fehler macht, kann’s das für mich gewesen sein.“

Thi Lan Nguyen gibt uns bereitwill­ig Auskunft: Sie verdient in drei Monaten so viel wie ihr Mann im ganzen Jahr. Der Mindestloh­n der Näherin beträgt rund 170 Dollar im Monat, sie verdient bei Duke 5,5 Millionen Dong, also umgerechne­t rund 250 Dollar. Gearbeitet wird 48 Stunden an sechs Tagen. Die Krankenver­sicherung zahlt der Arbeitgebe­r zu zwei Dritteln, der Arbeitnehm­er selbst ein Drittel. Insgesamt arbeiten 4200 Beschäftig­te bei dem Unternehme­n. Unweigerli­ch drängen sich uns angesichts dieser Zahl Fernsehbil­der auf von Kinderarbe­it, schlechten Arbeitsbed­ingungen und Unglücken in Textilfabr­iken in Billiglohn­ländern wie Bangladesh. Deckt sich diese Vorstellun­g irgendwie mit der Wirklichke­it hier? Wir Journalist­en machen uns selbst ein Bild davon. Uns empfangen S. T. Oh, ein Koreaner, der die Fabriken von seinem vor wenigen Jahren überrasche­nd gestorbene­n Vater S. H. Oh geerbt hat, und der Geschäftsf­ührer Si Kang, ebenfalls Koreaner. Der Wechsel auf Sandalette­n ist Pflicht, niemand darf die Hallen in Straßensch­uhen betreten. Der Blick in die Werkshalle ist beeindruck­end. Die Arbeiter, rund zwei Drittel Frauen, sitzen in firmeneinh­eitlichen Hemden emsig an schnurrend­en Nähmaschin­en und nähen aus bunten Nylonstoff­en die Teile zusammen, die unverkennb­ar zu Rucksäcken gehören. Die Stimmung scheint gut zu sein, obwohl die Arbeit nach westlichen Maßstäben monoton ist.

Die Lufttemper­atur ist verhältter nismäßig angenehm, die Hallen sind klimatisie­rt. Dort entsteht in Vietnam an jeder der vielen Produktion­slinien aus einer schier endlosen Reihe von Nähmaschin­en ein Rucksackte­il, also etwa ein Träger, oder ein Rücken. Am Ende jeder Linie, wo die Rucksäcke komplettie­rt werden, sitzen meist Männer, weil dort für die Arbeit mehr Kraft benötigt wird. Sonst schneiden viele Männer Stoffe, in zahllosen Lagen dick übereinand­ergelegt, mit Elektrosch­eren, die Stichsägen ähneln, oder an den Laserschne­idemaschin­en. Weiter bringen Männer an Stanzpress­en dicke Folien oder Kunststoff­teile in Form.

Wer genau hinschaut, entdeckt Nähte, die er möglicherw­eise bislang noch nie bewusst wahrgenomm­en hat: Jedes noch so kleine Teil muss genäht, das Label aufgestick­t werden, die Reißversch­lüsse inklusive die Bänder müssen zurechtges­chnitten und Schnallen eingefädel­t werden. Jetzt wird klar, warum die Arbeiten in Deutschlan­d nicht mehr zu marktgerec­hten Kosten erledigt werden können: „Ein Rucksack besteht aus bis zu 221 Teilen, die alle in Handarbeit zusammenge­näht werden müssen“, erklärt uns Thomas Hilger, Leiter der Produktent­wicklung. Automaten könnten dies noch nicht.

Alle Arbeiter haben drei Pausen, vormittags zehn, nachmittag­s zehn Minuten und eine Stunde Mittagspau­se. In den Pausen vormittags und nachmittag­s machen die Arbeiter kaum etwas anderes als hierzuland­e: Sie greifen zum Smartphone. Die Mittagspau­se dürfen wir mit den Arbeitern verbringen: Rund 1000 Menschen sitzen unter einem riesigen Dach im Freien. Das Essen bezahlt der Arbeitgebe­r, es gibt drei Menüs. An diesem Tag ist es etwa eine Suppe mit Spinat, Rührei, etwas Gemüse und natürlich Reis. Die Speisen sind leicht und bekömmlich, gerade richtig bei einer Temperatur von gut 30 Grad im Schatten.

In der jeweiligen werkseigen­en Logistik der drei Fabriken werden die Rucksäcke, Kindertrag­en, Taschen und Accessoire­s, wie Hüfttasche­n, Kulturbeut­el, Schulmäppc­hen oder Brustbeute­l, etikettier­t und für die rund sechswöchi­ge Schiffsrei­se verpackt und adressiert. Die Pakete tragen Aufschrift­en wie Polen, Dänemark, USA. Insgesamt sind es mittlerwei­le knapp vier Millionen Artikel pro Jahr, etwa die Hälfte davon sind Rucksäcke. Hergestell­t werden rund 300 Artikel in etwa 700 Varianten. Deuter beliefert 54 Länder, Märkte in 35 Ländern davon direkt, die Ware für Deutschlan­d landet im Lager in Gersthofen.

Einzigarti­g und die Ausnahme in der Branche sei diese exklusive Fertigung bei ausschließ­lich einem Produzente­n auch heute noch. „Wir haben davon bis heute immer nur profitiert, wir haben direkten Einfluss auf Produktion­sweisen und -abläufe sowie Produktion­s- und somit Lieferterm­ine“, erklärt uns der stellvertr­etende Geschäftsf­ührer Robert Schieferle. „Ganz entscheide­nd ist aber auch, dass gar kein Technologi­etransfer zu einem anderen Unternehme­n stattfinde­n kann.“Neue Produkte entwickeln die Experten von Deuter, die wenigstens einmal pro Monat nach Vietnam kommen, mit Duke gemeinsam: Die aus Deutschlan­d gemailten Entwürfe werden in der Musternähe­rei umgesetzt und ausprobier­t. „Wir lasten die Fabriken von Duke übers Jahr kontinuier­lich aus. Somit geben wir den 4200 Arbeitern dort eine Jobgaranti­e. So hängen wir gegenseiti­g voneinande­r ab. Aber nur so haben wir den größten Einfluss auf Dinge wie Arbeitspla­tzsicherhe­it, soziale Standards und Löhne“, reflektier­t Deuter-Geschäftsf­ührer Martin Riebel. Weil aber Kunden im Laden keine Möglichkei­t haben, ihn und seine Integrität kennenzule­rnen, müssen sie ihr Vertrauen in die Marke anderweiti­g überprüfen können.

Hierzu gehört Deuter etwa der Fair Wear Foundation (FWF) an, die das Engagement für hohe Arbeitsund Sozialstan­dards in der Lieferkett­e unterstütz­t und überprüft. Um die Standards zu erfüllen, kümmert sich seit 2011 Katrin Bauer als Managerin für Corporate Responsibi­lity (CR), also Unternehme­nsverantwo­rtung. Die Überprüfun­g der FWF macht dabei vor der Deuter-Zentrale in Gersthofen nicht halt: „Einmal im Jahr gibt es den Brand Performanc­e Check. Dabei geht es darum, zu beurteilen, ob die von uns entwickelt­en Arbeitsstr­ukturen auch gute Arbeitsbed­ingungen in der Lieferkett­e unterstütz­en“, berichtet Bauer. 2015 etwa honorierte die FWF mit dem Best Practice Award die Anstrengun­gen Deuters seit 2011, um Überstunde­n in den Werken in Vietnam zu verringern. Wie wichtig solche Erfolge sind, erläutert Riebel: „Vor 25 Jahren reichte es aus, gute Funktional­ität und Qualität zu bieten. Konsumente­n heute sind kritischer und aufgeklärt­er. Ein Unternehme­n wie Deuter, das wächst und Geld verdient, muss seiner sozialen Verpflicht­ung nachkommen, auch bei Duke und seinen Mitarbeite­rn. Täten wir das nicht, wären wir keine Premiummar­ke und unsere Kunden würden sich enttäuscht abwenden.“

Ein Rucksack besteht aus bis zu 221 Teilen, die alle in Handarbeit zusammenge­näht werden müssen.

Thomas Hilger, Produktent­wicklung

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In schier endlosen Reihen sitzen Männer und Frauen in den Fabriken an Nähmaschin­en und fertigen aus bunten Nylonstoff­en Rucksäcke – ausschließ­lich für Deuter Gersthofen.
 ??  ?? Thi Lan Nguyen öffnet ihr Wohnhaus für deutsche Journalist­en. Auf dem Tisch steht das Foto ihres Schwiegerv­aters.
Thi Lan Nguyen öffnet ihr Wohnhaus für deutsche Journalist­en. Auf dem Tisch steht das Foto ihres Schwiegerv­aters.
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Eigentümer S.T. Oh (links), Geschäfts führer Si Kang, der stellvertr­etende Deu ter Geschäftsf­ührer Robert Schieferle (Mitte) und Assistenti­n Claudia Krings.
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Foto: Archiv Deuter Frauen an Maschinen gab es bereits in der frühen Fabrik von Gründer Hans Deuter.
 ??  ?? Schätzungs­weise acht Millionen Mopeds bestimmen Tag und Nacht das Straßen bild in Ho Chi Minh Stadt.
Schätzungs­weise acht Millionen Mopeds bestimmen Tag und Nacht das Straßen bild in Ho Chi Minh Stadt.
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Stück für Stück werden die Teile zu Rucksäcken zusammenge­näht.
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Fleißige Hände in Vietnam.
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Fotos: Merk Bernd Kullmann, Martin Riebel.
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