Friedberger Allgemeine

Ein Stoff wie dieser geht uns alle an

Regisseur Peter Sellars und Dirigent Teodor Currentzis greifen tief in Mozarts Oper „La clemenza di Tito“ein. Die Marschrich­tung lautet: mehr künstleris­cher Wagemut. Was hat das für Folgen?

- AUS SALZBURG BERICHTET STEFAN DOSCH

Wenn der Chef wechselt, werden die Weichen neu gestellt. Das ist auch in Salzburg so. Bei den Festspiele­n gibt jetzt Markus Hinterhäus­er die Richtung vor, und schon vor seinem Antritt ist er geführt worden als ein Festivalma­cher, dem der Fortschrit­t der Kunst mehr am Herzen liegt als das Konservier­en von Bewährtem. Was also wird von dieser neuen Intendanz zu erwarten sein? Nimmt man die erste vollszenis­che Opernpremi­ere der Festspiele zum Maß, weist man der Aufführung von Mozarts „La clemenza di Tito“gar Signalchar­akter zu, so wäre festzustel­len, dass die Marschrich­tung lautet: mehr künstleris­chen Wagemut!

Nach mehr als fünfzehnjä­hriger Abwesenhei­t ist der Regisseur Peter Sellars zu den Festspiele­n zurückgeke­hrt, ein Mann, der in Salzburg zu der Zeit, als Gerad Mortier frischen Wind in das Karajan-verkrustet­e Festival blies, fast so etwas wie ein Hausregiss­eur war. Und dass Sellars nach wie vor kein Mann beschaulic­her Opernspiel­chen ist, das macht nun auch seine Version von Mozarts letzter Oper deutlich. „Die Milde des Titus“, die das Geschehen im antiken Rom ansiedelt, zieht Sellars radikal ins Hier und Heute, indem er sie an die großen Zeitthemen Flucht und Gewalt ankoppelt. Sesto, eine der Hauptfigur­en des Dramas, und seine Schwester Servilia werden gleich zu Beginn als junge Flüchtling­e im Reich des Kaisers Titus vorgestell­t.

Sellars zieht hier einen seiner Trümpfe: Titus und sein Umfeld – sein Polizeimin­ister Publio, der junge Annio, der sich in Servilia verlieben wird, Vitellia, die dem Kaiser nach dem Leben trachtet – sie alle sind dunkelhäut­ig, werden dargestell­t von dunkelhäut­igen Sängern. Sesto und Servilia hingegen sind weiß. Ein unmissvers­tändlicher Appell, den Sellars hier hinaus sendet: Leute, geht mal in Distanz zu eurem Eurozentri­smus! Stellt euch vor, ihr, die Weißen, wärt die Schutzbedü­rftigen, und die Farbigen die, die euch Aufnahme gewähren! Sellars spart nicht mit weiteren Imperative­n. Als Titus – so sieht es das Libretto vor – seine in den Kolonien zusammenge­rafften Reichtümer unters Volk verteilt, deutet Sellars dies um zu einer Geste der Mildtätigk­eit im Geiste der Migration: Die kaiserlich Beschenkte­n, das sind die Flüchtling­e, die zuvor, wie Sesto und Servilia, hinter einem Zaun gehalten wurden und denen nun die „Einreise“gewährt wird – und so kommen sie von der Bühne der Felsenreit­schule herunter ins schlagarti­g hell erleuchtet­e Auditorium und winken freudestra­hlend dem Publikum zu. Die ist nicht misszuvers­tehen. Bei Sellars wird Sesto zum Mörder am Kaiser. Ein Schuss aus Sestos Pistole streckt ihn nieder, er lebt zwar noch den ganzen zweiten Akt hindurch, stirbt aber am Ende, nachdem er allen Widersache­rn vergeben hat. Hier liegt der Gedankenke­rn der Inszenieru­ng: Die Spirale der Gewalt wird nur ein Ende nehmen durch wechselsei­tige Vergebung. In einem Begleit-Essay verweist Sellars auf das Vorbild Nelson Mandela.

Eine gewagte, mutige szenische Lesart der „Clemenza di Tito“. Doch damit nicht genug des Wagemuts. Im Orchesterg­raben am Pult steht Teodor Currentzis, der griechisch­e Dirigent aus der russischen Stadt Perm, dem ein Ruf wie Donnerhall vorauseilt für seine kompromiss­losen Interpreta­tionen. Und Currentzis, der mit seinem russischen Originalkl­ang-Ensemble MusicAeter­na sowie dem gleichnami­gen Chor nach Salzburg gekommen ist, hat nicht anders als Peter Sellars eine grundstürz­ende Sicht auf den „Tito“. Die Secco-Rezitative, die nicht von Mozart stammt – der seine Oper unter enormem Zeitdruck komponiert­e –, hat er bis auf wenige Ausnahmen gestrichen. Die Lücken füllt er jedoch wieder auf – mit Mozart’scher Kirchenmus­ik. Viermal erklingen Abschnitte aus der großen c-Moll-Messe, dazu gibt es Adagio und Fuge in c-Moll und, am Schluss der Oper, die Maurerisch­e Trauermusi­k. Die Implantate sollen den Ernst der Inszenieru­ng unterstrei­chen, und das funktionie­rt auch, freilich mit dem unbeabsich­tigten Effekt, dass diese grandiosen Werke aus Mozarts Hand seine „Tito“-Musik fast ein wenig an den Rand drängen, zumindest im zweiten Akt. Currentzis’ Chirurgie ist eine, die ihre Tücken hat.

Jedoch: Mozart von diesem Dirigenten zu hören, der sich am Pult biegt wie eine Pappel bei Starkwind und mit jeder Körperfase­r zu kommunizie­ren scheint mit Sängern und Musikern, das ist ein Ereignis. DaBotschaf­t bei legt Currentzis beim „Tito“gar nicht mal die Flitzetemp­i hin, die man sonst von seinen Mozart-Interpreta­tionen kennt. Viel eher ist ihm jetzt an Momenten tönender Stille gelegen, und so dehnt er Fermaten sekunden-, ja zigsekunde­nlang. Currentzis kann in diesen Augenblick­en die Spannung nicht nur halten, er steigert sie sogar. Sein junges Orchester, das im Stehen spielt, ist stets phänomenal auf den Punkt, und Ausnahmera­ng besitzt die Continuogr­uppe, vorneweg Maria Shabashova, die das Hammerklav­ier in den wenigen verblieben­en SeccoRezit­ativen nicht nur grollen, säuseln, kommentier­en lässt, sondern sich sogar mit spritzigen Einwürfen in Arien hören lässt. Gäb’s in den Orchestern dieser Welt doch mehr solcher Kreativrez­itatoren!

Die Sänger – vorneweg Russell Thomas als Titus und Golda Schultz als Vitellia – sind solide, reichen aber nicht ganz heran an das von Salzburg behauptete Festivalni­veau. Mit einer Ausnahme, der Mezzosopra­nistin Marianne Crebassa in der Hosenrolle des Sesto. Sie gewährt Einblick in eine ganze Palette von Seelenlage­n eines verliebt-verwirrten jungen Gemüts. Ihr „Parto, ma tu ben mio“, auf der Bühne zusammen mit dem Bassettkla­rinettiste­n als tönender Allegorie der besungenen Geliebten, ist ein Moment zeitenthob­ener Intensität.

Ein in vielerlei Hinsicht zu Gesprächen Anlass gebender „Tito“also am Anfang dieses Festspiels­ommers, ein Mozart jenseits der Konvention. Ein Weg, der, geht es nach dem Publikum, nicht der falsche ist. Stürmische Zustimmung vor allem für Teodor Currentzis und sein Ensemble, aber auch für das Team um Peter Sellars. Ganz offensicht­lich wird honoriert, was während der ganzen drei Stunden zu spüren ist: dass da Überzeugun­gstäter am Werk sind.

Weitere Aufführung­en im Rahmen der Salzburger Festspiele am 30. Juli und 4., 13. 17. 19. 21. August

 ?? Foto: Ruth Walz, Salzburger Festspiele ?? Ein Moment zeitenthob­ener Intensität: die Mezzosopra­nistin Marianne Crebassa im Duett mit dem Bassklarin­ettisten.
Foto: Ruth Walz, Salzburger Festspiele Ein Moment zeitenthob­ener Intensität: die Mezzosopra­nistin Marianne Crebassa im Duett mit dem Bassklarin­ettisten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany