Friedberger Allgemeine

Unser Italien

20 Prozent der Bayern wollen in diesem Jahr Urlaub zwischen Südtirol und Sizilien machen. Sie könnten doch hierbleibe­n. Ist nicht auch unsere Region durch und durch italienisc­h? Über Kindheits-Romantik, kuriose Verwandtsc­haften und den Sound des Südens

- VON ANDREAS FREI Fotos: Ralf Lienert, Thorsten Jordan, Jan Woitas/dpa

Kaufbeuren/Landsberg Mamma mia, der Tag fängt ja gut an. In Kaufbeuren haben gerade erst die Geschäfte aufgemacht und im – gefühlt – sehr italienisc­hen Café Essbar ist draußen schon kein Tisch mehr frei. Dann halt nebenan ins Café Weberhaus, „Italienisc­he Lasagne“für 8,50 Euro. Oder 50 Meter weiter ins „Gabriella“mit „Italienisc­hem Frühstück, Pasta, Pizza ...“Oder ganz runter an die Stirnseite der Kaiser-Max-Straße, zum historisch­en Rathaus. Wo Alexander Fichtl, ein – das klingt klischeebe­laden, ist aber so – ziemlich italienisc­h aussehende­r Allgäuer, lässig am Geländer lehnt und gleich eine ziemlich überzeugen­de Liebeserkl­ärung an ein ganzes Volk abgeben wird.

Ist der Sommer schön und alles passt, was sagen wir dann? Genau: Wie in Italien. Warum? Weil wir alle schon mal da waren. Klar, weil wir bei uns auch italienisc­he Eiscafés und italienisc­he Pizzerien haben. Und hier eine Vespa und da einen Fiat Cinquecent­o, und alle paar Minuten ruft jemand ein lang gezogenes durch die Gegend. Und wenn schon morgens um neun die 25-Grad-Marke fällt wie an diesem Tag – In diesem Fall verzeiht der Kellner aus Kampanien auch die „Gnotschi“- oder „Expresso“-Bestellung. Aber da ist mehr. Es steckt in den Geschichte­n der Menschen zwischen Oberstdorf und Nördlingen, in Kindheits-Erinnerung­en und Lebenseins­tellung, in Hobbys und Broterwerb. Bayern und Italien, das passt einfach. Einerseits, natürlich, in Richtung Gardasee und Co. Jeder fünfte Bayer will in diesem Jahr Urlaub in Italien machen, sagt der ADAC. Für fast alle Deutschen ist das eigene Land das beliebtest­e Reiseziel. Nur nicht für uns Bayern. Da ist es alles zwischen Südtirol, Sardinien und Sizilien. Dabei ist Italien doch längst unter uns.

Die Geschichte von Alexander Fichtl, 43, beginnt – natürlich – mit der Kindheits-Romantik. Allerdings etwas anders, als man vermuten könnte. Er sitzt in einem großzügige­n Raum im alten Rathaus von Kaufbeuren. In der Mitte der Besprechun­gstisch, hinten eine kleine Büroecke, an der Wand ein Regal, das diverse Wimpel zieren. Von hier aus werden, wenn man so will, Kaufbeuren­s Städtepart­nerschafte­n gepflegt. Und dieser Mann spielt dabei eine nicht unerheblic­he Rolle.

Alexander Fichtl, dunkle, längere Haare, beigefarbe­ne Hose, hellblaues Hemd, die Ärmel hochgekrem­pelt, hatte Phasen in seiner Jugend, als er ständig über den Brenner fuhr. Nicht nur, wenn Ferien waren. Seine Mutter arbeitete damals für eine Modeschmuc­kfirma. Einmal pro Woche stieg sie morgens in einen Kleintrans­porter, steuerte ihn nach Mailand, und abends ging’s zurück. Alexander saß oft auf dem Beifahrers­itz. Heute sagt er: „Es war immer ein schönes Gefühl.“

Er lernte Bauzeichne­r, studierte in München Architektu­r – und lernte Italienisc­h. Erst sachte, drei Wo- chen in Rom, dann richtig, ein halbes Jahr in Mailand. Ferrara kam auch in Frage, war aber zu teuer. Ferrara deshalb, weil die 130000Einw­ohner-Stadt in der Emilia-Romagna seit 1991 Kaufbeuren­s Partnersta­dt ist. In unserer Region pflegen 23 Städte und Gemeinden sowie ein Landkreis eine Allianz mit italienisc­hen Kommunen.

Es ist ja seltsam. Da blicken wir Deutschen gerne mal entsetzt Richtung Süden, schimpfen über dortige Schuldenbe­rge, Mafia-Verwicklun­gen und politische­s Chaos. Aber geht es darum, sich etwas Gutes zu tun, dann setzt sich unsereiner

zu Giuseppe in die Espressoba­r, stupst den Nebenmann an und sagt: „Gell, wie in Italien.“Und unzählige Städte werben damit, garantiert italienisc­hes Flair zu verströmen. Man nennt sie Elbflorenz (Dresden), Bayerisch Venedig (Passau), Venedig des Nordens (Emden), Rom des Nordens (Trier, Bremen) oder – am häufigsten: nördlichst­e Stadt Italiens (Augsburg, München, Regensburg, sogar Köln und Unna im Ruhrgebiet).

Kaufbeuren würde sich allenfalls so definieren: Stadt mit einem besonders innigen Verhältnis zu Ferrara. Alexander Fichtl hat schon als junger Erwachsene­r fasziniert beobachtet, wie einmal im Jahr ein paar Dutzend Italiener im Allgäu aufschluge­n, immer zum Tänzelfest. Wie sie dann in ihren historisch­en Kostümen beim Umzug mitliefen, Fahnen schwenkten und auf Trommeln einschluge­n. Wie sie ein paar Brocken Deutsch lernten, bayerische Kultur aufsogen und – ach ja – „schwäbisch­es Essen finden sie schon immer toll“. Nur beim Espresso, „da sind sie etwas heikel“.

Fichtl hat nach seinem MailandStu­dium einige Male Stadtführu­ngen auf Italienisc­h angeboten. Und irgendwann die Frage gestellt bekommen: „Kannst du dir vorstellen, unsere Freunde aus Ferrara zu betreuen?“– wenn Tänzelfest ist und auch sonst. Er konnte, und seit 2011 macht er das eigenveran­twortlich. Eine Art Mädchen für alles, beim großen Stadtfest von acht Uhr morgens bis halb zwei in der Nacht, drei Tage lang. „Superanstr­engend“, sagt Fichtl. „Und superschön.“

Fichtl begleitet beim Umzug die Gruppe, die übrigens immer aus dem Stadtteil San Giorgio kommt. Er erstellt das Besuchspro­gramm und verteilt es in italienisc­her Sprache. Darin stehen dann so Dinge wie: Arrivo al Hasen – Ankunft im Hasen, gemeint ist das Hotel. Er macht bei der Gesangspar­ty der Gäste mit. „Einer sagt: Du bist jetzt Romina Power und singst und dann mach ich das.“Und: Einmal im Jahr, im Mai, fährt er nach Ferrara, zum Palio, dem weltweit ältesten Pferderenn­en dieser Art.

Wobei: Aus diesem „einmal im Jahr“ist längst mehr geworden. Seit Jahren macht Fichtl mit seiner Frau und dem achtjährig­en Sohn Urlaub am Meer, 50 Kilometer von der Partnersta­dt entfernt. Natürlich schauen sie dann in Ferrara vorbei, unangemeld­et. „Und immer treffe ich ein paar Leute, die ich kenne.“Das ist dann natürlich groß.

In diesem Jahr war er schon fünfmal in Italien. Zuletzt vor zwei Wochen. Natürlich in Ferrara. Im Mai haben sie beim Palio zwei Rennen gewonnen, das wurde jetzt groß gefeiert. Natürlich durfte „Alessandro“nicht fehlen. Es ging bis nachts um drei. Dann wieder auf den Brenner, sechs Stunden bis Kaufbeuren. Und? „Schön war’s.“Wird das nicht irgendwann zu viel – der Beruf als Architekt im Staatliche­n Bauamt, die Familie und eben die Italien-Sache? Will man Letzteres nicht irgendwann von der Backe haben? Was für eine Frage! Und was für eine Antwort: „Ich wünsche mir, dass dies nie so sein wird.“Weil: „Italien ist Leidenscha­ft.“Auch das Italien in Kaufbeuren.

Oder in Neuburg an der Donau, Friedberg, Kempten, ja selbst im kleinsten Weiler ist der Alltag mal italienisc­h. Noch besser, er ist italienisc­h und man merkt’s gar nicht. Man holt sich auf der Bank Geld vom Konto bezahlt an der Kasse und wenn’s knapp wird, beantragt man einen Kredit

Schon kurios, wie nah wir uns in Sachen Geld sind.

Irgendwann ist uns in unserer Italien-Seligkeit der Gaul durchgegan­gen und jemand behauptete, es sei alles Der Italiener kennt das nicht. Genauso wie: Alles ist

Wir Deutschen sind so gute Erfinder, wir erfinden sogar italienisc­he Vokabeln. Vielleicht gehört das zur Globalisie­rung. So wie hierzuland­e immer mehr Pizzeria-Pächter ein tadelloses oder

beherrsche­n, ihre Heimat aber Rumänien oder Albanien ist.

Und auch das gibt es: Ralf Jodl und Alexander Barth verkaufen durch und durch italienisc­he Produkte – und nennen ihr Geschäft durch und durch unitalieni­sch: SIP Scootersho­p. Da ist Erklärungs­bedarf. Die Fahrt geht in ein Gewerbegeb­iet nach Landsberg. Eine neue, schicke Verkaufsha­lle inklusive Versand und Büros. Ein großes blaues Schild verkündet, dass geöffnet ist. Auf Italienisc­h natürlich –

Jodl lädt zum Espresso. Der Mann, 43, Basecap, kariertes Hemd, Shorts, Dreitageba­rt, braun gebrannt, versucht erst gar nicht zu beschwicht­igen. SIP Scootersho­p – „das ist so eine Art Jugendsünd­e“. Da sind, so um 1990, zwei junge Kerle, die lieben es, mit ihren Vespa-Rollern in der Innenstadt vor dem Eiscafé Cortina aufzuschla­gen, mit bis zu 20 Gleichgesi­nnten. Dann knattert man im Sound des Südens durch die Straßen, genießt das Leben, schraubt herum, fängt an, eigene Ersatzteil­e zu entwickeln, findet Abnehmer, gründet eine Firma, und dann braucht man halt einen Namen für das Baby. SIP Scootersho­p also. Wer rechnet schon damit, dass es so gut laufen würde? So gut, dass Jodl sein Volkswirts­chaftsstud­ium abbricht und nur noch Unternehme­r ist. Wie wichtig das Italienisc­he an diesem Geschäft sein würde, dieses Bewusstsei­n kommt erst später.

Dazu muss man wissen, dass Vespa die Kultmarke unter den Motorrolle­r-Fahrern ist, nach dem Krieg aus der Not heraus entwickelt von der Firma Piaggio aus Genua. Berühmt gemacht von Gregory Peck und Audrey Hepburn in „Ein Herz und eine Krone“, als sie auf ihrem Roller durch das Rom der fünfziger Jahre sausen. Und man muss wissen, dass sich seitdem weltweit eine richtige Vespa-Szene herausgebi­ldet hat. Fans, die sich austausche­n, zu Ausfahrten treffen, den Kult pflegen. Und Ersatzteil­e benötigen.

Genau da setzen Jodl und Barth an. Heute, 100 Mitarbeite­r stark, gehört ihre Firma zu den weltweit größten Versandhän­dlern dieser Art. Im Laden stehen schon mal Kunden, die eine halbe Weltreise hinter sich haben. „Hier“, sagt Jodl und schlägt das Gästebuch auf. „Die sind aus Indien, der aus Russland, Malaysia, Japan ...“

Den italienisc­hen Geist hauchte ihnen ein Mann aus Vicenza ein, Andrea. Der bot sich als Lieferant an. Das erste Treffen unweit von Venedig, nun ja, lief etwas anders,

Auf der Preisliste steht erst Getriebeöl, dann Rotwein

als die zwei erwartet hatten. Es ging erst mal zum Essen, drei Stunden, es floss Wein, ein behutsames, geschäftli­ches Annähern. „Wir haben viel von ihm gelernt, was italienisc­hes Lebensgefü­hl betrifft.“

Schnell merkten die beiden: Vespa-Kunden wollen mehr als Schrauben und Dichtungen. Heute sind auch Klamotten, Espresso-Tassen oder Sonnenbril­len im Angebot. Hinter dem Verkaufssc­halter hängt ein eine Preisliste: Getriebeöl 3,30, 0,75 – 9,90. In die Halle haben sie eine Espressoba­r integriert, in der man auch essen kann. Inzwischen kommen sie mittags scharenwei­se aus den umliegende­n Firmen hierher.

Und Ralf Jodl? Ist stolz auf sein Rundum-Italien-Ambiente. Wobei: „Mein Italienisc­h reicht nur zum Essen bestellen.“Oder für ein drüben in der Innenstadt, im Cortina. Dort, im Peter-Dörfler-Weg, direkt am Lechfall, reiht sich auf wenigen Metern ein Straßencaf­é ans andere. Markita, Likka, eben Cortina, Lavazza Bar, Lechcafé. Landsbergs Flaniermei­le. Auf der anderen Seite des Lechs flattert die Stadtfahne im Wind. Dieselben Farben wie die italienisc­he Nationalfl­agge. So stupst man wieder den Nebenmann an und sagt: „Gell, wie in Italien.“Unser Italien.

Serie Diese Geschichte ist Auftakt der Sommerseri­e „Unser Italien“. In den kommenden Wochen finden Sie quer durch die Zeitung Reportagen und In terviews über italienisc­hes Lebensgefü­hl vor unserer Haustür.

 ??  ?? Auch das ist Italien mitten in der Region: ein schon etwas in die Jahre gekommener Fiat 500 im Oberallgäu. Eine Portion Spaghetti, so lecker wie vor 50 Jahren. Oder Ralf Jodl, der zusammen mit einem Freund in Landsberg eine der weltgrößte­n...
Auch das ist Italien mitten in der Region: ein schon etwas in die Jahre gekommener Fiat 500 im Oberallgäu. Eine Portion Spaghetti, so lecker wie vor 50 Jahren. Oder Ralf Jodl, der zusammen mit einem Freund in Landsberg eine der weltgrößte­n...
 ??  ?? Italienisc­hes Lebensgefü­hl in Bayern, das ist vor allem Vielfalt pur. Der Kaufbeurer Alexander Fichtl, dem die Städtepart­nerschaft zu Ferrara ein Herzensanl­iegen ist. Ein traumhafte­r Badetag am Wasser. Oder eine große Portion „gelato“aus dem...
Italienisc­hes Lebensgefü­hl in Bayern, das ist vor allem Vielfalt pur. Der Kaufbeurer Alexander Fichtl, dem die Städtepart­nerschaft zu Ferrara ein Herzensanl­iegen ist. Ein traumhafte­r Badetag am Wasser. Oder eine große Portion „gelato“aus dem...
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Fotos: Harald Langer, Ralf Lienert, Daniel Karmann/dpa
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