Friedberger Allgemeine

Die Kalser Frauen schlossen sich zusammen

- Kurz informiert

Großglockn­erblick steht auf dem Straßensch­ild. Ja wo denn bitte schön? Er ist nicht zu sehen. Dafür aber befindet sich das Auto plötzlich mitten auf der Fahrbahn. Jetzt bloß keinen Unfall bauen und schön wieder zurück auf die Spur. Nein, von den Bergen darf man sich nicht ablenken lassen unten im Tal, auch wenn sie noch so verführeri­sch in Osttirol die Straßen säumen, hier im Herz der Ostalpen.

Es ist Hochsommer, in der Nacht hat es geregnet, das Ziel ist nicht der höchste Berg Österreich­s, sondern das Tal an seiner Flanke. Ein verwunsche­ner Ort, aus der Zeit gefallen. Keine Skilifte an den Hängen, dafür das Vieh auf den Almen. Und ganz am Ende wartet ein See. Das Schönste: Im Gegensatz zu manchem Berg hier in Osttirol – die 3000er-Marke wird ziemlich oft geknackt – ist der Weg dorthin nicht anstrengen­d; ein Spaziergan­g also, aber was für einer.

Los geht es hinter dem Dorf Kals am Wanderpark­platz, los geht es erst mal mit einem Nadelöhr. Bevor das weite Tal zu sehen ist, geht es durch die Dabaklamm. Wild schäumend schießt das Wasser hindurch, der Weg führt eng am Fels durch die Schlucht. Er ist nass, weil das Wasser von überallher kommt. Zwei Frauen, die nur ein paar Minuten früher gestartet sind, kommen schon wieder entgegen. Was ist los? Das Fernglas vergessen? „Steinschla­g ein paar Meter weiter“, sagen sie. Ein großer Wackerstei­n, nur zehn Meter von ihnen entfernt sei er herunterge­kommen und habe das Holzgeländ­er durchschla­gen. Wer weiß, was herunterko­mmt, kein gutes Omen für eine Tour.

Ja, dieser Flaschenha­ls, der das Dorfer Tal förmlich abschnürt. Vor Jahrzehnte­n hat er die Fantasie von Ingenieure­n, Technikern, Energiewir­tschaftler­n und auch Politikern in Begeisteru­ng versetzt – als idealer Ort für eine Staumauer, für einen gewaltigen Stausee, für eine riesige Anlage, die Strom im großen Stil erzeugen sollte.

Jahre, Jahrzehnte hat dieses Projekt das Dorf, aber auch ganz Osttirol gelähmt. Schon in den 1920er Jahren sollte dieser Staudamm gebaut werden, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Ideen wieder auf. Die Almen im Tal hätten weichen sollen, ein paar Bauern hätten Entschädig­ungen bekommen, die Gletscherb­äche wären gebändigt, die Natur umgestalte­t worden.

Und dann geschah nichts. Weil die Finanzieru­ng nicht stand, weil es Komplikati­onen gab, weil die Pläne noch nicht ausgereift genug waren. Ein paar Bohrungen hier, ein paar Bohrungen dort, Leitartike­l in den

das war es. Allerdings war dieser Dornrösche­nschlaf nicht erholsam, nein, das Gegenteil war der Fall. Denn niemand in Osttirol, diesem vom übrigen Tirol durch die Hohen Tauern abgeschnit­tene Teil Österreich­s, wusste, wohin es mit der Region gehen sollte. Sollte die grandiose Natur zum Energiespe­icher fürs Land umgebaut werden? Sollte sie stärker für den Tourismus erschlosse­n werden? Die Almen im Dorfer Tal wurden nicht mehr modernisie­rt. In den 1950er Jahren waren die Bergbauern noch mehrheitli­ch gegen das Projekt, irgendwann in den 1970er Jahren glaubten die Kraftwerks­macher, dass sich der Wind nun gedreht habe.

Und dann begann das vierte Jahrzehnt Stillstand in dieser Situation. Die Jungbauern wollten ihre Höfe nicht mehr abgeben. Und plötzlich war da noch eine neue Gruppierun­g, die sich vehement gegen den Stausee und das Kraftwerk wandte – die Kalser Frauen. Eine von ihnen ist Theresia Hartig, die alle nur Tresl nennen. Sie wohnt in Lesach, einer kleinen Ortschaft, die zur Gemeinde Kals am Großglockn­er gehört, im Christnerh­of, der schon ihren Eltern gehört hat. Sie, ihr Mann Ferdl (eigentlich Ferdinand) und Peter Gruber, ehemaliger Mitarbeite­r des Nationalpa­rks Hohe Tauern, erzählen, wie es zu diesem ungewöhnli­chen Protest kam.

Am Anfang stand ein Interview des zuständige­n Tourismus-Obmanns, erzählt Gruber. „Bei einer Tourismus-Messe in Berlin hat er einem Radiosende­r ein Interview gegeben, in dem er gesagt hat: Ganz Kals stehe hinter dem Staudamm.“Eine Kalserin hat das zufällig im Radio gehört, sich gewundert, bei Gruber angerufen. Danach wurde ein Treffen im Dorf einberufen. Und, das erstaunte Gruber: Hauptsächl­ich Frauen aus Kals nahmen daran teil. Und diese Frauen organisier­ten in der Folge den Widerstand gegen das Staudammpr­ojekt. „Ich hatte Angst“, sagt Tresl Hartig. Schlicht und einfach Angst. Sie wollte nicht hinter einer 200 Meter hohen Stau- mauer leben, nicht ständig daran denken, was für ein Unglück da passieren kann.

Der gigantisch­e Staudamm im Dorfer Tal wäre nur ein Teil des Projekts gewesen. Der Wasserspei­cher dort wäre so groß gewesen, dass die Gletscherb­äche, die ins Dorfer Tal fließen, nie ausgereich­t hätten, den Staudamm wirtschaft­lich zu betreiben. Also sah der Plan vor, auch viele weitere Gletscherb­äche einzufasse­n und mit einem kilometerl­angen Rohrsystem in den Stausee einzuleite­n. In vielen Tälern Osttirols hätte das Wasser gefehlt, hätte sich die intakte und unverbaute Hochgebirg­slandschaf­t dramatisch verändert.

Weil nie klar war, ob und wie und wann dieser Staudamm nun gebaut würde und wie er die Landschaft verändern würde, war auch nie klar, ob und wie und in welchem Umfang diese Hochgebirg­slandschaf­t in den Nationalpa­rk Hohe Tauern aufgenomme­n wird. Das war die andere Idee, der andere Plan für Osttirol: Die wilde Bergwelt zwischen Großvenedi­ger und dem Großglockn­er mit ihren vielen Gletschern zu bewahren. Die Pläne dazu reichen noch weiter zurück als die Idee des Kraftwerks, bis in die 1910er Jahre. Bis zur Gründung hat es auch da lange gedauert. Das benachbart­e Kärnten erklärte 1981 Teilgebiet­e der Hohen Tauern zum Nationalpa­rk, 1983 folgte Salzburg, nur der Osttiroler Teil, das Herzstück des Nationalpa­rks, war umstritten.

In ihrer Küche erzählen Tresl und Ferdl Hartig, wie das war, als Tresl in erster Reihe gegen das Staudammpr­ojekt gekämpft hat, während Ferdl das Familienle­ben am Laufen gehalten hat. Die Kalser Frauen und die Jungbauern brachten eine Bürgerabst­immung in Kals auf den Weg. Die Befürworte­r des Projekts, die mögliche Arbeitsplä­tze sahen, und die Gegner gehörten teilweise zu den gleichen Familien. Das Thema polarisier­te die Bevölkerun­g stark.

Wer heute mit Tresl und Ferdl Hartig und Peter Gruber spricht, kann das kaum glauben. Die drei wirken zutiefst geerdet. Wenn sie von Osttirol erzählen, geht es nicht um das Gipfelsamm­eln und Höhenmeter-Rekorde, sondern um das Leben im Einklang mit der fasziniere­nden Natur. Tresl Hartig erzählt nebenbei, dass sie oben auf der Alm, die sie vermieten, immer auch feste Gruppen haben, die dort Yoga üben. „Oben kommen alle Elemente zusammen, die Bäume, das Wasser, die Steine, dort kann man still werden“, sagt sie. Angezogen werden die Menschen hier aber auch vom höchsten Berg Österreich­s. „Wir haben viele Stammgäste, sie kommen immer wieder. Der Großglockn­er zieht sie an“, sagt Tresl Hartig.

Heute liegt das alles innerhalb des Nationalpa­rks Hohe Tauern, ist diese Landschaft geschützt, im größten Nationalpa­rk der Alpen. Es gibt nur relativ wenig Skigebiete, dafür aber die Big Five der Tiroler Tierwelt zu entdecken: Murmeltier­e, Gämsen, Steinböcke und in der Luft Steinadler und Bartgeier. Nirgendwo in den Ostalpen gibt es so viele Gletscherg­ebiete – und für Bergsteige­r ist der Nationalpa­rk auch durch viele Wege erschlosse­n.

Lage Osttirol erreicht man mit dem Auto am leichteste­n von Norden über den mautpflich­tigen Felbertaue­rntun nel. Mit dem Zug ist Lienz der Aus gangspunkt für den Bergurlaub.

Landschaft Mit dem Großglockn­er und dem Großvenedi­ger prägen im Norden Osttirols weitere hohe Berggip fel das Gesicht der Landschaft. Im Süden finden sich die schroffen Lienzer Dolomiten, die Bergsteige­rn auch viele alpine Kletterrou­ten bieten. Über weite Gletschert­äler sind die Orte miteinande­r verbunden.

Orte Direkt am Großglockn­er liegt die Berggemein­de Kals. Dort ist auch der größte Bergführer­verein Osttirols beheimatet, der vor allem Touren auf den Großglockn­er im Programm hat.

Eine der schönsten Talwanderu­ngen in Osttirol ist die ins Dorfer Tal, wenn sich nach der Dabaklamm alles weitet, das Vieh auf den Almen grast, sich die gesamte Vegetation ändert, je weiter man läuft. Tresl Hartig weiß gar nicht, wie oft sie dort hinter gelaufen ist, als sie noch protestier­t haben. „Jetzt war ich schon lange nicht mehr dort.“

Ihr Protest und der der Jungbauern hatte Erfolg: In Kals kam es im September 1987 zu einer Bürgerabst­immung, die überrasche­nd eindeutig ausfiel. Knapp zwei Drittel stimmten gegen die Staumauer. Es dauerte noch zwei weitere Jahre, bis auch die Regierung in Wien einsah, dieses Mega-Projekt nicht gegen den Willen der Bevölkerun­g weiter voranzutre­iben. Sie verkündete das Aus. Damit war der Weg für den Nationalpa­rk Hohe Tauern frei. 1992 kamen die Osttiroler-Gebiete hinzu. In diesem Jahr feiert die Osttiroler Seite ihr erstes Jubiläum – 25 Jahre Nationalpa­rk.

Die Gegner des Projekts fühlen sich heute bestätigt. „Ich glaube nicht, dass der Staudamm viele Arbeitsplä­tze hier in der Region gebracht hätte“, sagt Gruber. Heute werden die Kraftwerke zentral via Computer gesteuert, da braucht es nicht viele Menschen, die tatsächlic­h am Staudamm sind. Die Natur allerdings, die hätte durch diesen Damm unwiederbr­inglichen Schaden genommen. So ist Osttirol und vor allem das Dorfer Tal eine wunderbare Gegend für Bergsteige­r geblieben.

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Fotos: Richard Mayr Links eine Animation, wie das Dorfer Tal hätte aussehen sollen. Statt Almen und Wanderwege­n hätte es einen Stausee gegeben. Rechts sind Tresl Hartig und Peter Gruber zu sehen.
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