Friedberger Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (14)

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IZwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

ch hätte es noch am Montag nach Rock Harbour schaffen können. Nachdem ich die eine und andere heikle Situation beim Ab- und Einbiegen und Überholen bestanden und mich an den Linksverke­hr gewöhnt hatte, fuhr ich beschwingt zuerst auf dem sechsspuri­gen Highway und dann auf der zweispurig­en Straße, die mal in größerem, mal in kleinerem Abstand der Küste folgte. Bis mich auf einmal aller Mut verließ. Ich fuhr an den Straßenran­d, hielt an und stieg aus. Was wollte ich bei Irene Gundlach oder Irene Adler? Ihr sagen, dass ich immer noch gekränkt war? Ihr endlich in Person sagen, was ich ihr damals in Gedanken gesagt hatte? Dass man Menschen nicht benutzt und dann fallenläss­t? Dass ich zu einfältig und zu ungeschick­t für sie gewesen war, sie aber geliebt hatte und dass man mit der Liebe eines anderen nicht spielt? Dass sie mir immerhin einen Brief hätte schreiben können, eine Erklärung geben und die Kränkung mildern?

Ich würde mich nur wieder blamieren. Vierzig Jahre war alles her, und sie würde lächerlich finden, dass mich die Vergangenh­eit nicht losließ. Ich selbst fand lächerlich, wie gegenwärti­g sie mir war. Mir war, als wäre ich gestern mit Irene auf der Bank am Main gesessen, als hätte ich sie gestern mit dem VWBus erwartet, als hätte sie mich gestern vor dem Dorf abgesetzt. Und als würde ich, wenn ich mit ihr auf einer Bank säße, wieder der sein, der ich damals war.

Geht das so mit den Dingen, die nicht zu Ende gekommen sind? Aber Dinge kommen nicht zu Ende, man bringt sie zu Ende. Ich hätte die damalige Episode zu Ende bringen, ich hätte ihr einen Sinn geben müssen. Dass es ohne Irene mit meiner Frau nicht so erfolgreic­h gelaufen wäre – ich hatte es mir einreden wollen, aber es stimmte nicht. Ich habe die Schulzeit und die Zeit auf der Universitä­t, die tote Mutter und den Vater, der mich noch ein paar Mal bei den Großeltern besucht hat, dann nach Hongkong gezogen und dort gestorben ist, zu den Akten gelegt als etwas, das war, wie es war, und nicht anders hätte sein können. Warum bestand etwas in mir darauf, dass es mit Irene anders hätte laufen können, als es gelaufen war?

Ich hatte auf einer Höhe angehalten. Nach Westen zogen sich Berge mit Gestrüpp und Gesträuch und aufrechten und krüppelige­n Bäumen, die aufrechten Bäume mit hellen Stämmen, ohne Rinde, wie nackt, wie krank. Im Osten begann hinter zwei Bergzügen das Meer. Ich ging über die Straße und setzte mich auf die Böschung. Das Meer war scheckig, grau und blau, glatt und rauh. In der Ferne machten zwei Schiffe Fahrt und schienen doch nicht vom Fleck zu kommen.

Fahrt machen und nicht vom Fleck kommen – so fühlte ich mich. Dann sagte ich mir, dass es nur so schien, als kämen die Schiffe nicht vom Fleck. Vielleicht kam auch ich vom Fleck, obwohl es mir nicht so schien. Die Flecken auf meinem Anzug kamen mir in den Sinn, und ich musste lachen. Die Flecken, die mich früher geschreckt hätten und seit dem Nachmittag im Botanische­n Garten nicht mehr schreckten! Doch, ich war vom Fleck gekommen. Würde ich mich bei Irene Gundlach oder Irene Adler blamieren, wär’s auch nur ein Flecken auf dem Anzug. Die Sonne schien. Es roch nach Kiefer und Eukalyptus. Ich meinte, auch das ferne Meer zu riechen, einen schwachen, feuchten, salzigen Hauch. Ich hörte die Zikaden zirpen und manchmal im Tal den Motor einer Säge aufheulen. Nein, ich würde mir keine Sorgen mehr machen. Ich würde am nächsten Tag nach Rock Harbour fahren und heute am Meer ein Hotel finden und auf der Terrasse dem Schauspiel des Einbruchs der Nacht zuschauen. In Australien ist eben noch Tag, binnen Minuten wird der helle blaue Himmel tiefblau, dann wird er schwarz, und es ist Nacht.

Rock Harbour hatte vier Straßen, einen kleinen Hafen mit ein paar Jachten und Booten, ein Geschäft mit Café und Postschalt­er, ein Immobilien­büro und einen eisernen Soldaten auf einem steinernen Sockel, der an die Gefallenen der Weltkriege, des Korea- und des Vietnamkri­egs erinnerte. Ich fuhr die Straßen ab; sie waren leer, nicht wegen der frühen Stunde, wie ich zuerst dachte, sondern weil die Sommerhäus­er noch ohne Sommergäst­e waren. Ich fand weder eine Straße noch ein Haus mit dem Namen „Red Cove“. Ich ging ins Geschäft und fragte.

„Sie wollen zu Airien?“Der Mann mit weißer Haut, weißen Haaren und rosa Augen, der neben der Theke auf einem Stuhl saß, legte ein Buch aus der Hand und stand auf. Airien? Irene, drei kurze Silben, drei helle Vokale, drei Töne eines Lieds, drei Walzerschr­itte – ein Name, der gesungen, der getanzt werden will. „Airien“zieht sich wie ausgelutsc­htes Kaugummi. „Sie wohnt eine Stunde von hier. Haben Sie ein Boot?“

„Ich bin mit …“

„Sie können nur mit dem Boot hin. Sie können hier auf sie warten, aber sie kommt alle zwei Wochen und war gestern hier. Anrufen geht auch nicht, sie hat keinen Empfang.“

„Gibt es Schiffe, die an der Küste?…“

Er lachte. „Eine Küstenschi­fffahrtsli­nie? Nein, gibt es nicht. Mein Junge kann Sie mit dem Boot hinbringen. Er kann Sie auch abholen, wenn Sie wissen, wann Sie abgeholt werden wollen.“„Anrufen, wenn ich…“„Nein, anrufen geht nicht.“„Kann Ihr Junge mich gleich hinbringen? Und heute Abend abholen?“Diesmal hatte der Mann mich ausreden lassen.

Er nickte und lud mich ein, an einem der Tische unter dem Vordach auf seinen Sohn Mark zu warten. Ich setzte mich und hörte ihn telefonier­en, dann brachte er zwei Bier, setzte sich zu mir und stellte sich vor. Er hatte in Sydney gelebt, genug von der Stadt gehabt und war vor sieben Jahren hierhergez­ogen. Er liebte das Meer, die Ruhe, das Aufwachen des kleinen Orts zur Saison, den Trubel der Sommermona­te, die Nachsaison, in der sich Künstler und Schriftste­ller gerne für ein paar Wochen billig einmietete­n, die Rückkehr der Ruhe. Alle kamen zu ihm, die jungen Familien, die Großeltern, die Teenager, die Künstler.

„Da leben, wo sie lebt, wäre nicht meine Sache. Es ist dort schön. Aber Schönheit alleine… weit und breit keine Menschense­ele… Was bringt Sie zu ihr?“

„Wir haben uns lange nicht gesehen.“

„Ich weiß.“Er lachte. „Sonst hätten Sie mich schon getroffen. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“„Vor vielen Jahren.“

Er ließ es gut sein. Mark kam, brachte mich zum Boot, einer altertümli­chen Barkasse, warf den Motor an und legte ab. Er stand in der Kajüte und steuerte, ich saß auf der Bank vor der Kajüte und hielt mein Gesicht in die Sonne und den Wind. Die Berge und Buchten der Küste sahen alle gleich aus, in sanftem Gleichmaß hob und senkte sich das Boot und klatschte auf das Wasser, und in ebenso ruhigem Gleichmaß tuckerte der Motor. Ich schlief ein.

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