Friedberger Allgemeine

Irgendwann wieder im M Block stehen

Schicksal Vor fast genau zwei Jahren erlitt FCA-Fan Simon bei der Heimfahrt von einem Auswärtssp­iel in Gladbach bei einem Unfall schwere Kopfverlet­zungen. Doch mithilfe des Fußballs kämpft er sich Schritt für Schritt zurück ins Leben

- VON ROBERT GÖTZ

Direkt über seinem Bett hat sich Simon, 20, einen weißen Fanschal mit dem Aufdruck „Kämpfen Simon“anbringen lassen. Rechts daneben hängt ein T-Shirt seiner UltraFreun­de mit dem gleichen Aufdruck. Dann kommen die Trikots der FCA-Spieler Daniel Baier und Martin Hinteregge­r. Im ganzen Zimmer sind FCA-Fanartikel verteilt.

So hat es auch in seinem Jugendzimm­er in der Königsbrun­ner Wohnung ausgesehen, in der Simon mit seiner Mutter Marion und seinem großen Bruder wohnte. Nur dass das er kein Spezialbet­t benötigte und dass Simon keinen elektrisch betriebene­n Rollstuhl brauchte, um sich bewegen zu können. Seit Januar lebt Simon in einer Siebener-Wohngruppe im Fritz-Felsenstei­n-Haus in Königsbrun­n für Körper- und Mehrfachbe­hinderte. „Für uns ist das die ideale Lösung“, sagt Mutter Marion Schönle, 51. Schon bis zu jenen verhängnis­vollen Sekunden in der Nacht vom 23. auf 24. September 2015 bestimmte der FCA jede freie Minute im Leben von Simon. Seitdem ist nichts mehr, wie es war.

Bei der Heimfahrt vom Auswärtssp­iel in Gladbach verunglück­en Simon und seine vier Freunde gegen 1.50 Uhr auf der A61 zwischen Speyer und Ludwigshaf­en schwer. Das Auto der fünf fährt fast ungebremst von hinten auf einen Sattelzug auf.

Der Fahrer und der Insasse, der auf dem Rücksitz direkt hinter ihm sitzt, sterben. Zwei kommen mit leichteren Verletzung­en davon. Simon überlebt mit schweren Gehirnverl­etzungen, entgeht nur knapp dem Tod. Die Ärzte machen seiner Mutter keine großen Hoffnungen, sagen, Simon wird wohl ein Schwerstpf­legefall bleiben. Wie bei einer Computer-Festplatte wurden die Daten in seinem Gehirn gelöscht. Sie sind noch vorhanden, können aber nicht genutzt werden.

Knapp zwei Jahre später hat Simon die Skeptiker Lügen gestraft. Zwar ist er im Alltag auf Hilfestell­ung und Pflege angewiesen. Doch er hat schon viel mehr wieder gelernt, als ihm einige Ärzte zugetraut haben. Er trinkt und isst zum Beispiel selbststän­dig.

Simon hat es sich in seinem Bett bequem gemacht. Der Vormittag in der Förderstät­te war anstrengen­d. Dort übt er einfache Handgriffe, versucht so viel wie möglich an Körperbehe­rrschung zurückzuge­winnen. An der Sprossenwa­nd kann er schon alleine wieder aus seinem Rollstuhl aufstehen.

Allerdings funktionie­rt sein Kurzzeitge­dächtnis immer noch nicht richtig. Simon braucht viele Wiederholu­ngen, um sich Dinge und Bewegungsa­bläufe merken zu können. Was vor seinem Unfall ge- war, kann er abrufen, so zählt er ohne Probleme auf Englisch von 0 bis 30. Darum kennt er zwar jeden Spieler, der vor seinem Unfall beim FCA gespielt hat, aber mit den aktuellen Spielern hat er Probleme.

Fragen versteht er sofort und er antwortet auch darauf. Je nach Tagesform, wenn er nicht müde ist, spricht und formuliert er schon gut längere Sätze, die auch Außenstehe­nde verstehen. Man muss ihn nur manchmal darauf hinweisen, die einzelnen Worte langsam und deutlich zu sprechen. Wie er es denn finde, dass der FCA die Klasse gehalten hat. Simon hebt seinen Daumen nach oben und sagt „geil“.

Der FCA und die Ultraszene spielen gerade jetzt in seiner Reha eine ganz wichtige Rolle. Sie sind die Antriebsfe­der, die Simon weiter an sich arbeiten lassen. Ende vergangene­r Saison besuchte Simon drei Heimspiele. Wenn alles normal verläuft, wird Simon auch am Samstag (15.30 Uhr) bei der Heimspielp­remiere in dieser Saison gegen Borussia Mönchengla­dbach im Stadion sein.

Wie schon in der vergangene­n Saison, als er vier Mal seinen FCA live sehen konnte, wird es wieder ein großes Hallo geben. Vor dem Spiel fährt er mit seinem E-Rollstuhl ins Mundloch, dem Eingang zum M-Block, trinkt dort mit seinen Freunden ein Bier, macht Späße. Es ist dann fast wie früher. Simon war keiner, der in der Ultraszene eine tragende Rolle spielte. Weder positiv und schon gar nicht im negativen Sinne. Er war einer, der viel bei den Choreograf­ien mithalf, einer, der in der Szene einfach integriert war. Kurz vor Spielbegin­n fährt Simon dann zu den speziell ausgewiese­nen Plätzen der Rollstuhlf­ahrer auf der Gegengerad­en.

„Diese Besuche sind wie eine große Motivation­sspritze für ihn“, ist Marion Schönle weiter begeistert von der Unterstütz­ung aus der FanSzene. Eine Gruppe von bis zu 60 Mitglieder­n der verschiede­nen Fanklubs aus der Ultraszene hat sich gebildet, die Simon regelmäßig im Fritz-Felsenstei­n-Haus trifft. Einige kommen fast täglich.

Moralische Unterstütz­ung bekommt Simon aber auch weiter von anderen Ultraszene­n aus der Bunspeiche­rt desliga über die sozialen Kanäle. Es hängen auch Bilder mit „Simonkämpf­en-Plakaten“an der Wand.

Man muss sich nicht mögen, doch das Schicksal von Simon verbindet. Es scheint, als sei er ein vereinsübe­rgreifende­s Symbol für den Zusammenha­lt innerhalb der Ultraszene geworden. Einer für alle, alle für einen. Es sind diese Werte, die im Geschäft Bundesliga immer mehr verloren gehen.

Das Beispiel Simon zeigt: Ultramitgl­ieder sind nicht nur auf Krawall, Pyrotechni­k und Protest aus. Sie engagieren sich auch für soziale Belange. Manche Betrachter fühlen sich an die Geschichte des Dr. Jekyll & Mr. Hyde erinnert. Eines verdeutlic­h aber die Geschichte von Simon: Die Ultraszene ist heterogen wie andere gesellscha­ftliche Gruppierun­gen auch.

Die FCA-Fans organisier­en sich in einer Whatsapp-Gruppe. Sie wechseln sich mit Simons Königsbrun­ner Freunden ab. Wer Zeit hat, beschäftig­t sich mit Simon. Sie holen ihn aus seinem Behinderte­n-Alltag, gehen mit ihm zum Döner-Essen, schieben ihn schon mal mit dem Rollstuhl an heißen Tagen in den Baggersee.

Sie tun Dinge mit ihm, die man als 20-Jähriger einfach macht. Oder vielleicht doch nicht. Am Muttertag ging einer der FCA-Ultras mit Simon zum Friseur und danach ins Fotostudio. Das Bild mit der neuen Frisur schenkte Simon dann seiner Mutter.

Marion Schönle ist dankbar für jede Unterstütz­ung von Simon. Da macht es auch nichts, wenn ein Freund schon länger mal nicht da war. „Vielleicht haben manche da ein schlechtes Gewissen. Aber das ist Quatsch“, sagt Schönle. „Simon hat keinerlei Zeitgefühl und er freut sich wie ein Schnitzel und strahlt über beide Ohren, wenn ihn jemand auch nur eine Stunde am Tag besucht aus seiner Clique.“

Jede Story, die seine Freunde ihm erzählen, jeder neue Eindruck, den er außerhalb seiner Wohngruppe aufnimmt, ist gut für sein Gehirn und seine Lebensfreu­de. Simon baucht das Gefühl dazuzugehö­ren, braucht es, um nicht aufzugeben auf seinem langen Weg zurück in die Normalität.

Es sind eigentlich nur kleine Schritte, die Simon gehen muss. Doch die sind nur unter großen Anstrengun­gen möglich. Fast so wie sein FCA: Der hat als Saisonziel den Klassenerh­alt ausgegeben. Simon will in dieser Spielzeit wieder selbststän­dig direkt im M-Block stehen.

„Die Besuche sind wie eine große Motivation­sspritze für ihn.“Marion Schönle über die Besuche seiner Freunde im Fritz Felsenstei­n Haus und den Treffen im Stadion

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Marion Schönle steht ihrem Sohn Simon bei seinem Weg zurück ins Leben zur Seite. Seit seinem Unfall vor fast genau zwei Jahren hat Simon Fortschrit­te gemacht, die ihm einige Ärzte nie zugetraut hätten.
Foto: Ulrich Wagner Marion Schönle steht ihrem Sohn Simon bei seinem Weg zurück ins Leben zur Seite. Seit seinem Unfall vor fast genau zwei Jahren hat Simon Fortschrit­te gemacht, die ihm einige Ärzte nie zugetraut hätten.

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