Die Kämpferin ist zurück
Endlich, 20 Jahre nach der Sensation mit „Der Gott der kleinen Dinge“, jetzt: „Das Ministerium des äußersten Glücks“. Arundhati Roy bleibt politisch und sozialkritisch
Manche Schriftsteller hätten nach einem sensationellen Debüt-Erfolg möglichst bald das nächste Werk nachgelegt. Arundhati Roy hat sich 20 Jahre Zeit gelassen. Für ihren ersten Roman, „Der Gott der kleinen Dinge“, erhielt die indische Autorin 1997 den Booker-Preis. Der zweite, „Das Ministerium des äußersten Glücks“, ist gerade erschienen – und prompt auf der Longlist der 13 Kandidaten für die diesjährige Ausgabe der renommierten britischen Auszeichnung gelandet.
„Wer ‚Der Gott der kleinen Dinge 2‘ erwartet hat, wird vielleicht etwas verdutzt sein, weil es so anders ist“, sagt Roy. „Darüber habe ich mir aber keine Sorgen gemacht, denn wenn ich die Sorte Mensch wäre, die die Erwartungen der Leute zu erfüllen versucht, hätte ich wohl nichts von dem geschrieben, was ich geschrieben habe.“
Im „Gott der kleinen Dinge“, der Geschichte einer Familientragödie im südindischen Dorf, in dem Roy aufwuchs, spielte die Ungerechtigkeit des Kastensystems eine große Rolle. Im neuen Roman kommen nahezu alle Formen der Ausgrenzung in Indien vor. Die Protagonisten sind Transgender-Frauen, Muslime, Angehörige niedriger Kasten und Unabhängigkeitskämpfer in Kaschmir. Sie finden Zuflucht vor den Traumata, die sie verfolgen, im Jannat (Paradies) Guest House, eine Pension, die eine Transgender-Frau in einem Friedhof auf den Gräbern gebaut hat. Roy erzählt anhand der Erlebnisse ihrer Figuren von den Tragödien Indiens der vergangenen Jahrzehnte – die Massaker an tausenden Sikhs im Jahr 1984 aus für die Ermordung der damaligen Premierministerin Indira Gandhi durch ihre Sikh-Leibwächter, die Pogrome gegen Muslime 2002 im Bundesstaat Gujarat nach dem Brand eines Zuges mit HinduPilgern, die unschuldigen Opfer des Blutvergießens zwischen indischen Sicherheitskräften und muslimischen Kämpfern in Kaschmir, die Lynchmorde durch Hindus an Dalits (früher „Unberührbare“) und Muslimen wegen angeblichen Schlachtens von Kühen.
Im Hintergrund lauern stets die „Saffran-Sittiche“, die Hindu-Na- tionalisten von Indiens heutiger Regierungspartei BJP, die Roy in Anspielung auf die Farbe von deren Bewegung so nennt. Premierminister Narendra Modi wird nicht beim Namen genannt, kommt aber als „Gujarats Liebling“vor, der als Regierungschef des Bundesstaates im Jahr 2002 den Mob zum Töten angestachelt habe. Beim „Aufstieg des Sittich-Reiches“– in Anlehnung an das „Dritte Reich“– werde jeder Nicht-Hindu als Dämon betrachtet, schreibt Roy.
Die 55-Jährige hat zwischen den zwei Romanen nicht etwa unter eiRache ner Schreibblockade gelitten, sondern zahlreiche Essays geschrieben – etwa gegen indische Atombombentests und US-Kriege sowie für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Sie hat gegen die Vertreibung von Indigenen wegen des Baus eines Staudamms gekämpft und ist mit maoistischen Rebellen durch die Wälder Zentralindiens gelaufen. Sie wurde wegen angeblich anti-indischer Äußerungen mehrmals angezeigt und hat wegen Missachtung eines Gerichts einen Tag im Gefängnis verbracht. Das Magazin nannte sie 2014 eine der 100 einflussreichsten Personen der Welt.
Viele der politischen Themen, die Roy beschäftigen, fließen in das Buch ein, und Passagen davon lesen sich wie Streitschriften. Immer wieder kommt aber auch die Lyrik und der beinahe kindliche Humor, die Leser aus dem „Gott der kleinen Dinge“kennen, zum Vorschein – poetische Beschreibungen des mystischen Innenlebens der Natur, skurrile Vergleiche, schrullige Spitznamen. „Dies ist ein eindeutig experimentelles, stacheliges, gewagtes Buch“, sagt Roy.
Vor zehn Jahren seien ihr die Charaktere erschienen, und sie habe möglichst lange mit ihnen zusammenleben wollen, bevor sie sie in die Welt hinausschickte. „Manchmal fühlte es sich an, als würden sie bei mir zu Hause rumhängen, rauchen und ihre Meinungen kundtun.“ » Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks, übersetzt von Anette Grube, S. Fischer, 560 S., 24 Euro