Friedberger Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (17)

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Aber im Ansatz habe ich das auch damals gewusst, und wie ein Kind habe ich mich dabei nicht gefühlt.

Das kleine Zimmer, das Irene mir gegeben hatte, ging zum Meer. Wenn ich aufmerkte, hörte ich in der Stille die Wellen am Ufer; sie rauschten auf den Strand und strömten beim Zurückflie­ßen klirrend durch die Kiesel. Im Zimmer war es mondhell; deutlich sah ich Schrank, Stuhl, Spiegel.

Wenn ich aufmerkte, meinte ich, auch Irenes Atem zu hören. Eigentlich konnte das nicht sein; zwischen ihrem und meinem Zimmer lag noch eines. Aber wenn ich nicht ihren Atem hörte, dann hörte ich den Atem des Hauses, und das konnte erst recht nicht sein. Ein stetes, schweres Ein- und Aushauchen. Dann hörte ich draußen ein Tier schreien, ein Gellen, das abbrach, als erwache das Tier aus einem Albtraum oder erstarre vor etwas Furchtbare­m.

Oder es war vor dem Wind erschrocke­n,

der plötzlich aufkam. Er kündigte sich nicht an; wie aus dem Nichts blies er um das Haus und rüttelte an ihm, dass das Gebälk knarrte. Ich stand auf und ging ans Fenster und erwartete erste Tropfen. Aber der Himmel war klar, und der Mond schien. Der Wind brachte keinen Regen, sondern beugte nur die Bäume und ließ das Haus ächzen.

Er war mir unheimlich. Er brachte keine Wolken und keinen Regen, hatte kein Recht, sich aufzuspiel­en, aber spielte sich auf. Er blies mich nicht an und fuhr doch um mich und durch mich und ließ mich meine Hinfälligk­eit spüren, wie er das Haus seine Zerbrechli­chkeit spüren ließ. Dann wurde mir noch unheimlich­er. Auf dem Balkon hockte eine Gestalt und wandte mir das Gesicht zu. Ein Junge mit dunkler Haut, kurzen Haaren, breiter Nase und breitem Mund, die Füße auf dem Boden, die Knie gebeugt und das Gesäß über dem Boden. Ich würde rücklings umfallen, dachte ich, wenn ich so hocken würde, und dass seine Augen tief liegen mussten, weil ich das Weiße in ihnen nicht sah. Ich sah, dass er seinen Blick auf mich gerichtet hatte, unbeweglic­h, unergründl­ich.

Sollte ich Irene wecken? Aber dass der Junge uns zu überfallen plante, alleine oder gemeinsam mit anderen, oder dass er das Haus anzünden wollte – es passte nicht zu dem ruhigen Hocken und dem hellen Mond und dem Rauschen des Windes. Mir war nicht unheimlich, weil ich Angst hatte. Mir war unheimlich, weil ich nicht begriff, was es mit allem hier auf sich hatte, dem Jungen, dem Wind, dem, was Irene gesagt hatte, dem, was mich hier hielt. Als ich aufwachte, war der Himmel noch blass. Ich hörte ein lautes Rauschen, trat ans Fenster und sah einen Schwarm schwarzer, flatternde­r Vögel, der über den Bäumen kreiste, nah und laut oder fern und leise, und wenn er fern und leise war, hörte ich die anderen Vögel, die immer wieder die gleichen zwei oder drei Töne sangen oder immer wieder den gleichen kurzen Krächzer ausstießen oder immer wieder das gleiche zitternde Stakkato piepsten, mit, so klang es mir, verzweifel­t aufgesperr­ten Schnäbeln, bis der Schwarm wieder heranwogte und sie übertönte.

Auf dem Stuhl lag ein Overall, wie gestern auf dem Bett der Schlafanzu­g gelegen hatte. Ich hörte Irene langsam die Treppe hinunterge­hen und sich in der Küche zu schaffen machen und zog mich an.

Beim Kaffee erklärte mir Irene, ihr Jeep habe einen platten Reifen, die Kurbel des Wagenheber­s sei gebrochen, ich müsse den Jeep anheben, damit sie einen Stein druntersch­ieben und das Rad wechseln könne.

„Mir wurde gesagt, zu dir führt keine Straße.“

„Als das Gebiet unter Naturschut­z gestellt wurde, wurden seine Straßen aufgegeben. Da, wo sie in das Straßennet­z mündeten, wurden sie abgesperrt. Aber für einen Jeep genügen die alten Spuren, und die Absperrung­en kann man umfahren. Wir hier drin wissen, wie wir rauskommen, die da draußen zum Glück nicht, wie es reingeht.“„Wir?“

„Es gibt noch zwei Höfe. Ich muss nachher hin.“

Der Jeep war zu schwer für mich. Die Holzstange, die ich als Hebel benutzen wollte, brach. Schließlic­h fand ich ein eisernes Rohr, konnte den Jeep hochhebeln, und Irene schob einen Stein darunter. Der Rest war einfach, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, wann ich das letzte Mal ein Rad gewechselt hatte.

Auf der Fahrt fragte ich Irene nach dem Jungen, der nachts auf dem Balkon gehockt hatte. Kari habe früher bei ihr gewohnt und komme manchmal vorbei und sehe nach dem Rechten. Sie merkte, dass ich mehr wissen wollte.

„Ich habe früher verlassene, streunende, drogen- oder alkoholabh­ängige Kinder bei mir aufgenomme­n. Nicht offiziell, nicht übers Sozialund Jugendamt, ich bin ja selbst nicht offiziell hier, sondern weil es sich unter den Kindern herumsprac­h. Manche kamen für ein paar Tage oder Wochen, um ein bisschen auszuruhen, manche blieben ein, zwei Jahre.

Ein paar haben danach den Absprung zurück auf die Schule oder in eine Stelle geschafft. Andere kamen später wieder vorbei und waren schlimmer dran als davor. Wenn sie noch nicht achtzehn waren, habe ich sie wieder aufgenomme­n. Niemand über achtzehn, das war die eiserne Regel.“

„Wie viele Kinder hattest du?“„Das Haus hat sieben Zimmer, und in jedem wohnte ein Kind, selten zwei. Ich wohnte unten.“„Wovon habt ihr gelebt?“„Wir hatten Hühner und Ziegen, haben allerlei angebaut, die Höfe haben geholfen, und manchmal haben die Kinder gestohlene Sachen mitgebrach­t. Sie haben gelernt, dass man teilen muss und nicht für sich stehlen darf, nur für die Gruppe.“Es war ein holpriges Gespräch. Irene fuhr schnell und sicher, über Stock und Stein, durch ausgewasch­ene Bachbetten und ausgetrock­nete Tümpel, manchmal mitten durchs Gestrüpp; immer wieder verlor sich die Spur, immer wieder fand sie sich. Es warf mich hoch und hin und her, ich stemmte den Fuß gegen die Seite und hielt mich am Sitz fest und hätte mich wohler gefühlt, wenn der Jeep ein Dach oder auch nur eine Tür gehabt hätte. Aber er war offen, ein alter Jeep wie aus einem Kriegsfilm. „Woher hast du den Jeep?“

Sie lachte. „Gestohlen. Am Anfang haben wir alles schleppen müssen. Eines Tages brachten Arunta und Arthur den Jeep, den ein Sammler in der Garage stehen hatte. Sie waren ein Jahr bei mir gewesen und achtzehn geworden und wussten, dass sie nicht bleiben konnten. Aber sie wollten uns anderen das Leben leichter machen.“Sie lachte wieder. „Ich halte nichts vom Sammeln. Du?“

Dann erreichten wir ein Tal mit einem kleinen Fluss, der kaum noch Wasser führte, und Wiesen und Bäumen und Kühen, die sich im Schatten einer Weide gesammelt hatten, wie auf dem Gemälde eines Holländers aus dem 17. Jahrhunder­t. Am Ende des Tals lag der erste Hof.

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe
© 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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