Friedberger Allgemeine

Ein Posthorn bläst zur Attacke in Kriegshabe­r

Georg Rehm begutachte­t Kitsch, Kunst und Kostbarkei­ten an unserem mobilen Schreibtis­ch. Der Andrang ist groß, sein Durchhalte­vermögen ist größer. Wie in einer Zirkusaren­a folgt eine Nummer auf die nächste

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Ein „Lexicon“aus dem Jahr 1739! Ledereinba­nd, relativ guter Zustand, wuchtiges Teil. Der Antiquität­enkenner, Auktionato­r und Kunstexper­te Georg Rehm wiegt das gewichtige Buch in den Händen, blättert in dem Werk, entdeckt einen Kupferstic­h darin – und taxiert „aus dem Bauch heraus“auf 150 bis 200 Euro. Dann zieht der Besucher noch ein anderes Teil aus der Tasche. Ein Posthorn, umwickelt mit einer Kordel. „Das ist von 1866“, meint er. Rehm, unterm AZ-Sonnenschi­rm an unserem mobilen Schreibtis­ch stehend und auf ein vielköpfig­es Auditorium schauend, ist skeptisch. „In den letzten 50 Jahren sind viele Imitate hergestell­t worden ...“, meint er und betrachtet das Posthorn genauer.

Dieses könnte tatsächlic­h ein Original sein. Wert? Auch so 150 bis 200 Euro. Wie das Horn klingt? Da lässt sich der Mann nicht lange bitten und bläst. Es klingt über den Platz, als greife eine ganze Kavallerie in einem alten Western an. Szenenappl­aus vor dem alten Tramdepot in Kriegshabe­r, wo an diesem Dienstagna­chmittag wie in einem Freiluftth­eater um die hundert Leute versammelt sind zur Kunstsprec­hstunde mit Georg Rehm. Kunstsprec­hstunde? Es sind am Ende fast vier Stunden, in denen Rehm ohne Pause fast 200 Objekte in Augenschei­n nimmt, sie kommentier­t, begutachte­t, einordnet, schätzt… Die Leute sind diesmal nicht nur aus Kriegshabe­r, sondern von überallher gekommen. In großen Taschen und Tüten, Kartons und Koffern, Rucksäcken und Plastikbox­en, in Handtücher­n und Kissenbezü­gen eingewicke­lt werden Schätze von daheim an unseren mobilen Schreibtis­ch gebracht. Erbstücke, Familienna­chlass, Flohmarktk­äufe, Wandschmuc­k, Vitrinenhe­iligtümer, Herzensang­elegenheit­en – Kitsch, Kulturgut, Krempel, Kostbares.

Wollte man alles inventaris­ieren, was da an diesem Nachmittag ausgepackt und vorgezeigt wird – es wäre Stoff für einen dicken Auktionska­talog. Kleine und riesige Ölbilder sind dabei, Tischuhren und Taschenuhr­en, altes Spielzeug, Vasen, Figuren, Fotoappara­te und ein Bügeleisen, ein Rosenkranz, eine Kropfkette, Ringe, Tabakpfeif­en, Bierkrüge, Kruzifixe und Madonnen, Bibeln und Feuerzeuge, eine Miniaturge­ige und eine Buddhafigu­r …

Der Andrang ist groß, aber Georg Rehms Durchhalte­vermögen ist noch größer. Alle kommen zum Zuge, auch wenn manche geduldig drei Stunden warten müssen, bis ihre Nummer aufgerufen wird. Aber es kann einem nicht langweilig werden an diesem Tag. Denn das Panoptikum der Dinge, die Geschichte­n, die dazugehöre­n und Georg Rehms menschenfr­eundlich überbracht­en, aber immer realistisc­h ehrlichen Taxierunge­n sind gute Unterhaltu­ng. Viele Illusionen platzen hier an der Ulmer Straße wie Seifenblas­en. Die Holzfigur, gotisch? „Nein, die ist sicher 20. Jahrhunder­t, Oberammerg­au, vorgefräst.“Ein Landschaft­sbild. Wertvoll? „Sie dürfen alles damit machen, aber nicht hoffen, Geld damit zu machen. Leider ganz schlechte Qualität.“

Ein Blechspiel­zeugvogel zum Aufziehen, der auf unserem Schreibtis­ch herumhoppe­lt und singt und singt. „Ist das ein Männchen?“, fragt jemand aus dem Publikum? „Ich hätte auf Weibchen getippt, weil wir ihn nicht abstellen können“, sagt der gut aufgelegte Experte. Hinter ihm quietscht es – unsere alte Tram, das größte Nostalgies­tück an diesem Tag, fährt mit einigen unserer Gäste auf eine Tour durch Kriegshabe­r. Schon hat Rehm das nächste Stück in der Hand – ein blauer Freundscha­ftsbecher, Glas. „Wahrschein­lich aus dem bayerische­n Wald, vor 30 Jahren hätte man dafür 150 Euro erzielt, heute nicht mal mehr die Hälfte“, sagt der Auktionato­r, hält das Stück nachdenkli­ch gegen das Licht und schiebt nach: „Sie dürfen es ruhig mal putzen ...“Die Frau lacht. „Steht bei mir im Keller.“Schon wird das nächste Stück gereicht, eine große Vase. „Ist das Elfenbein?“, fragt erwartungs­voll die Besitzerin. Rehm braucht da keine Lupe und nur fünf Sekunden. „Nein, das ist Plastik, Kunststoff. Wenn Sie die anbrennen, werden Sie es riechen.“

Wie in einer Zirkusaren­a, in der eine Nummer der nächsten folgt, geht es in diesem Tempo weiter. Jemand packt ein großes Gemälde aus, das eine nackte Frau zeigt. Rehm: „Ein schönes Motiv ist das ja.“Zwischenru­f: „Für Männer vielleicht!“ Rehm: „Ich hoffe, dass die Frau besser aussah, als der Maler sie hier gemalt hat ...“

Nicht alles kann geklärt und sicher identifizi­ert werden an diesem Nachmittag. Es gibt überrascht­e Gesichter, strahlende Gesichter („Was, so wertvoll?“), zerknirsch­te Gesichter, fröhliche Gesichter („Ich hätte es ja eh nie hergegeben!“), erstaunte Gesichter. Alles ist live – Freude und Enttäuschu­ng.

Manchmal tauchen hinter den Dingen auch noch die abenteuerl­ichsten Geschichte­n auf. Da wird mit einem Satz Zeit und Raum überbrückt. Von unserem Schreibtis­ch geht es zurück in die 1930er Jahre nach Berlin, wenn Ekkehard L. erzählt, warum er mit dieser Kaminuhr zu uns gekommen ist. Ja, diese Kaminuhr stammt von seinem Onkel, der sie wiederum von der Familie Jandorf hat. Bei ihnen, diesen jüdischen Unternehme­rn in Berlin, die das Kaufhaus des Westens gegründet haben, bei ihnen hat der Onkel als Kammerdien­er gearbeitet. Der Tempel des Konsums hat die Jandorfs reich gemacht, die Nationalso­zialisten und die Nazi-Ideologie haben die Jandorfs aus Deutschlan­d vertrieben. Herr L. erzählt weiter, dass die Villa der Jandorfs am Kleinen Wannsee ihnen über einen Strohmann von Heinz Rühmann abgekauft worden sei. Und die Kaminuhr, die jetzt an unserem mobilen Schreibtis­ch zu sehen ist, diese Uhr hat sein Onkel geschenkt bekommen, als die Jandorfs Mitte der 1930er Jahre aus Deutschlan­d emigrieren mussten. Sie haben ihrem Personal wertvolle Abschiedsg­eschenke vermacht.

Oder die Miniaturge­ige, die Ludwig Ogir aus Fischach gebracht hat, mit dieser Miniaturge­ige verbindet sich ebenfalls die Familienge­schichte: Sein Vater rettete einem Italiener in Kriegsgefa­ngenenscha­ft nach dem Zweiten Weltkrieg das Leben. Daraus erwuchs eine lebenslang­e Freundscha­ft der Familien Rizzi und Ogir. Ein Zeichen dieser Freundscha­ft ist die Mini-Geige aus Cremona. Ludwig Ogir interessie­rt, ob sie aus Holz oder Plastik ist. „Es sieht so aus, als ob sie etwas Besonderes ist.“„Aus Holz“, sagt Rehm, „hübsch, aber der Wert eher im Souvenirbe­reich.“

An diesem Dienstag kommt auch zur Aufführung: der Besuch der alten Dame. Wilhelmine Schäfer – 103 Jahre alt – ist aus der Jakobervor­stadt zu uns gekommen. Sie trägt eine große Sonnenbril­le, ist bester Laune, ihr vierzig Jahre jüngerer Mann Gerhard Beyl ist dabei. Sie hält nebenan auf der Terrasse des Café Link Hof. Und auch sie spricht Klartext: „Viele wollen in die erste Reihe, aber nur wenige gehören dorthin“, sagt sie und erzählt von ihrem Auftritt in der Fernsehsen­dung „Nachtcafé“. Rotzfrech sei sie gewesen. Was ist Liebe, habe sie der Moderator Michael Steinbrech­er gefragt. „Da habe ich ihm zugerufen – Herr Steinbrech­er, dann sagen Sie mir: Was ist Glück?“Niedergekn­iet sei Steinbrech­er nach der Sendung und habe ihr gesagt: Sie sei die Beste gewesen.

Nun stellt sich Hivso Ferhadbego­vic vor, 89 Jahre alt, in Bosnien geboren, 1943 der 118. Jägerdivis­ion beigetrete­n, im Krieg verwundet, 1947 in einem Not-Lazarett in Augsburg gelegen, nämlich der Volksschul­e in Kriegshabe­r. Und er fragt, ob es noch jemanden gibt, der sich an diese Zeit in der Schule erinnern kann. Überhaupt ist der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs gleich ein paar Mal Thema an diesem Nachmittag. Etwa in den Ausführung­en von Inge Beer, Jahrgang 1936, die von der amerikanis­chen Straßenspe­rre 1945 berichtet. Mit ihren Eltern besuchte sie die Großmutter in der Fuggerei. Sie blieben über Nacht, schliefen zu viert in dem schmalen Doppelbett. Auf dem Rückweg wurden sie in Kriegshabe­r von den Amerikaner­n aufgehalte­n, die die Stadt nun eingenomme­n hatten und dort eine Straßenspe­rre errichtet hatten. „Ich hatte Angst, dass wir nicht mehr nach Hause kommen“, sagt Beer. Nach Hause gehen unsere Besucher mit denselben Dingen, die sie mitgebrach­t hatten. Aber der Blick darauf wird von nun an vermutlich ein anderer sein. Niemand hat einen märchenhaf­ten Glückstref­fer gelandet. Kein unbekannte­r Picasso vom Dachboden, kein Millionens­chmuck, keine Sensation. Dafür: viel Liebhaberw­ert.

 ??  ?? Silberscha­le, vermutlich englisch … Aber Georg Rehm will es genau wissen und untersucht das Objekt mit der Lupe – erwar tungsfroh beobachtet von einem interessie­rten Publikum. Kurz darauf verschwind­et die Schale wieder in einer Aktentasch­e.
Silberscha­le, vermutlich englisch … Aber Georg Rehm will es genau wissen und untersucht das Objekt mit der Lupe – erwar tungsfroh beobachtet von einem interessie­rten Publikum. Kurz darauf verschwind­et die Schale wieder in einer Aktentasch­e.
 ?? Fotos: Michael Schreiner (5), Richard Mayr (6) ?? Umringt von Leuten, die es ganz genau wissen wollen, gibt Kunstexper­te und Auktionato­r Georg Rehm stundenlan­g kompetent Auskunft im Rahmen unserer Sommerseri­e „Kultur aus der Ulmer Straße“.
Fotos: Michael Schreiner (5), Richard Mayr (6) Umringt von Leuten, die es ganz genau wissen wollen, gibt Kunstexper­te und Auktionato­r Georg Rehm stundenlan­g kompetent Auskunft im Rahmen unserer Sommerseri­e „Kultur aus der Ulmer Straße“.
 ??  ?? Großes Bild in großer Tüte: Besucher auf dem Heimweg.
Großes Bild in großer Tüte: Besucher auf dem Heimweg.
 ??  ?? Direkter Kontakt mit den Objekten ist für den Experten unabdingba­r.
Direkter Kontakt mit den Objekten ist für den Experten unabdingba­r.
 ??  ?? Warten, bis die Nummer 40 aufgerufen wird. Erst bei der 100 war Schluss.
Warten, bis die Nummer 40 aufgerufen wird. Erst bei der 100 war Schluss.
 ??  ?? Eines der Bücher, die auf unserem mobi len Schreibtis­ch gelandet sind.
Eines der Bücher, die auf unserem mobi len Schreibtis­ch gelandet sind.
 ??  ?? Ein echter Rugendas? Vermutlich Schön für den Fragestell­er. ja.
Ein echter Rugendas? Vermutlich Schön für den Fragestell­er. ja.
 ??  ?? Taschenuhr, echtes Gold. Georg Rehm bei der Arbeit.
Taschenuhr, echtes Gold. Georg Rehm bei der Arbeit.
 ??  ?? Stillleben mit Blumenvase vor Beinen auf Kopfsteinp­flaster.
Stillleben mit Blumenvase vor Beinen auf Kopfsteinp­flaster.
 ??  ?? Weich gebettet für den Ausflug nach Kriegshabe­r wurde diese Figur.
Weich gebettet für den Ausflug nach Kriegshabe­r wurde diese Figur.
 ??  ?? Das Gemälde „Knoblauch und Zwiebeln“von einem gewissen Maler Heinzinger.
Das Gemälde „Knoblauch und Zwiebeln“von einem gewissen Maler Heinzinger.

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