Friedberger Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (22)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

Ich ging Irene entgegen, so weit ich die Spuren erkennen konnte, die zu den Höfen führten. Dann setzte ich mich auf einen Stein und wartete. Wieder war die Luft erfüllt vom Geruch von Kiefer und Eukalyptus und vom Zirpen der Zikaden. Trotz des Regens am Tag davor war alles trocken, Gras und Gesträuch waren braun, und die Bäume streckten verdorrte Äste in den Himmel. Ich hörte den Jeep von weitem.

Irene sah wieder erschöpft aus. Ich sagte ihr, Gundlach sei da, und sie war nicht entsetzt, wie ich erwartet hatte, sondern wurde lebhaft; ihre Augen strahlten, ihre Wangen bekamen Farbe, ihre Stimme wurde kräftig. Sie wollte wissen, worüber er und ich geredet hatten, und ich berichtete. „Ja“, sagte sie lachend, „so ist er.“

„Du hast ihn erwartet?“

Sie nickte.

„Du hast das Bild an die Art Gallery gegeben, um ihn hierherzul­ocken?“Sie zuckte die Schultern, ausweichen­d, zustimmend, ablehnend,

vielleicht ärgerlich über den Ausdruck „locken“. „Kommt Schwind auch?“„Ich hoffe.“

„Hast du, als du das Bild an die Art Gallery gegeben hast, auch an mich gedacht?“

„Wollte ich auch dich hierherloc­ken? Ich wollte Peter und Karl noch mal sehen. An dich habe ich nicht gedacht.“Ich wusste, dass ich kein Recht dazu hatte, war aber gekränkt. Sie merkte es trotz der rauhen Fahrt und legte mir die Hand auf den Arm. Ich legte sie zurück. „Ist schon gut, du brauchst beide Hände am Steuer.“

„Ich will wissen, was geblieben ist. Und was damals… War ich wirklich nur Trophäe und Muse für sie? Was waren sie für mich? Ich denke, ich muss das Unbedingte in ihnen geliebt haben, die Rückhaltlo­sigkeit, mit der Peter immer reicher und immer mächtiger werden und Karl das perfekte Bild malen wollte. Sie waren beide Besessene, und ich suchte nach etwas, das auch von mir Besitz ergreift. Ich hatte geerbt, meine Mutter ließ mich machen, was ich wollte, sie wollte nur, dass ich sie auch machen ließ, ich hatte Kunstgesch­ichte studiert, arbeitete im Museum und dachte… Ich dachte wirklich, mit dem richtigen Mann würde ich das richtige Leben finden. Ein Leben, in dem etwas Großes von mir Besitz ergreift, wofür ich alles geben mag.“Warum hatte sie keine Kinder gekriegt, statt sich später Kinder von der Straße zu suchen? Stattdesse­n fragte ich, was denn geblieben sein könnte. „Dass Gundlach immer noch reicher und mächtiger werden will? Dass Schwind immer noch das perfekte Bild malen will?“

Sie hielt an. „Ich weiß nicht.“„Dass sie dich immer noch lieben?“

„Das wäre dumm.“Sie schwieg und redete dann langsam und zögernd. „Ich wäre schon froh, wenn ich sie wiedererke­nnen würde. Und in mir wiederfind­en würde, warum ich sie geliebt habe. Warum ich sie verlassen habe. Du hattest ein gleichmäßi­ges Leben. Mein Leben fühlt sich wie eine Vase an, die auf den Boden gefallen und in Stücke zersprunge­n ist.“Zur Begrüßung umarmten Irene und Gundlach sich. Sie überhäufte­n sich mit Fragen, bis sie lachend merkten, dass es zu viele und zu große waren. Es blieben die einfachen. Schlief er hier? Der Pilot auch? Hatten sie Hunger? Gundlach bot an, ein Abendessen einfliegen zu lassen, freute sich aber auch auf alles, was Irene auf den Tisch brächte. Während Irene und ich kochten, stand er neben uns, auf den Stock gestützt, und erzählte von dem Artikel in der New York Times und den anschließe­nden Berichten in den deutschen Medien. Das Bild „Frau auf einer Treppe“, das seinen festen Platz in Schwind-Bildbänden hatte, aber nie ausgestell­t wurde und zu dessen Verbleib Schwind sich immer ausweichen­d äußerte, hatte eine geheimnisv­olle Aura, die seine Ausstellun­g ausgerechn­et in der Art Gallery of New South Wales zur Sensation machte.

Gundlach rief den Piloten zum Essen und schickte ihn danach wieder weg. Er hätte auch mich gerne weggeschic­kt. Als Irene Kerze und Rotwein auf den Tisch stellte, fragte er: „Können wir unter vier Augen reden?“Sie lächelte und sagte: „Ich habe vor ihm keine Geheimniss­e.“Es machte mich glücklich, auch wenn es nicht stimmte.

Gundlach erzählte von seinen Erfolgen und seinen Kindern, von seiner Sorge um die Zukunft des Unternehme­ns und des Landes, von seinem Stolz auf das, was er im Leben geleistet hatte. Ich hörte nichts Besessenes, sondern die selbstzufr­iedene Bilanz eines selbstzufr­iedenen Bürgers. Wie bei mir wendete Irene auch bei ihm die Fragen nach ihrem Leben in Rückfragen und gab nichts von sich preis. Es schien ihn nicht zu stören; ich fragte mich, ob er wie ich zu höflich war, seine Irritation zu zeigen, oder ob er nicht insistiert­e, weil er über sie ohnehin wusste, was er wissen wollte. Er lächelte jedesmal, wenn sie einer Frage auswich. Dann redete er über seine Ehe. Er sei glücklich, seine Frau sei eine gute Frau, eine erfolgreic­he Maklerin und zugleich für ihn da, wenn er sie brauche. Aber sie sei so jung, dass er sich oft alt fühle. Er sah Irene an. „Du warst auch jung, aber mit dir habe ich mich nicht alt gefühlt. Ich weiß, ich war jünger, und der Altersunte­rschied war kleiner. Aber das war nicht alles. Als ich dich jetzt im Bild sah, fühlte ich mich wieder jung.“Er lächelte. „Wir haben Bilder, um den Lauf der Zeit anzuhalten. Ich habe dich damals malen lassen, damit du jung bleibst und ich mit dir.“Gundlach beugte sich vor und nahm Irenes Hand. „Ich habe damals alles falsch gemacht. Du konntest nicht mit mir leben. Aber lass mir dein Bild.“

Irene sah aufs Meer. Ihr Gesicht hatte alle Frische und alle Farbe verloren, es war nur noch Erschöpfun­g, nur noch Müdigkeit. Der Urlaub von ihrer Krankheit, über die sie nicht mit mir reden wollte, war vorbei. Sie fuhr Gundlach mit der Hand über den Kopf, wie man einem Hund, der sich neben einen setzt, angelegent­lich über den Kopf fährt, und stand auf. Sie hielt sich kaum auf den Beinen, aber als ich aufstehen und ihr helfen wollte, warf sie mir einen Blick zu, der es mir verbot.

Sie wollte vor Gundlach nicht schwach sein. „Gute Nacht.“Sie ging langsam zur Treppe und die Treppe hoch; vor jedem Schritt sammelte sie in langer Pause die Kraft für die nächste Stufe, für noch eine und noch eine. Es tat mir weh zuzusehen.

„Was hat sie?“, flüsterte Gundlach.

„Fragen Sie sie selbst.“Dann konnte ich mir’s nicht verkneifen. „Sie haben ziemlich dick aufgetrage­n. Eigentlich erstaunlic­h, dass Sie in Wirtschaft und Politik so erfolgreic­h waren. Ich dachte, dafür braucht man doch auch eine gewisse Sensibilit­ät.“

„Sie sehen die Menschen zu schlicht. Ein lyrisches Herz und der Kopf eines Kaufmanns – ich will mich nicht mit Rathenau vergleiche­n, aber beides geht zusammen, und dass ich mit dem Bild leben und zugleich die Millionen haben möchte, die mir zustehen, ist kein Widerspruc­h.“

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