Knallharte Auslese
450 junge Menschen bewerben sich jährlich für ein Schauspielstudium am Max Reinhardt Seminar in Wien. Beim Vorsprechen fallen 97 von 100 Kandidaten durch
Wien Die Abiturientin im Faltenrock ist allein auf der Bühne: „Es ist ein fremder Hauch auf mir? Was soll das heißen – es ist ein fremder Hauch auf mir?“, trägt sie mit großer Gestik im Schönbrunner Schlosstheater in Wien vor. Bei ihrer Vorbereitung für Tucholskys Monolog „Lottchen“hat sie sich selbst Anweisungen am Ende des Merkblattes gemacht: „starker Kontrast zwischen weich, kokett & streng“, heißt es. Die 18-jährige Österreicherin hofft so vor einer strengen Jury ihr Ticket in die Theaterund Filmwelt lösen zu können.
Darf sie vier Jahre lang am Max Reinhardt Seminar studieren und damit eine Ausbildung wie Hollywood-Star und Oscar-Preisträger Christoph Waltz und TV-Liebling Christiane Hörbiger erhalten? Beide gehören zu den Absolventen der Schule, für die sich jedes Jahr fast 450 Kandidaten bewerben. Nur rund ein Dutzend wird genommen.
„Danke schön“, unterbricht die Juryvorsitzende und Institutsleiterin Tamara Metelka die Aspirantin. Acht Juroren vor rot gepolsterten Sesseln des Barocktheaters sind umringt von kaiserlicher Pracht. Sie selber sitzen an simplen Tischen und schreiben Notizen. „Starke Präsenz!!!“, „Impulse? Zu äußerlich gearbeitet“oder „Guter Sprachzugriff“steht da auf Blättern festgehalten. Die Experten suchen nach einem formbaren Rohdiamanten. Sprachliche Begabung, guter Umgang mit dem Körper, Verständnis für Literatur müssen vorhanden sein – und das gewisse Extra.
Jedes Jahr buhlen hunderte von Bewerbern um einen der Studienplätze am Reinhardt Seminar. Kaum einer Schule im deutschsprachigen Raum eilt so sehr der Ruf der brillanten Künstlerschmiede voraus. Doch selbst mit dem dortigen Ma- gister-Abschluss sind die Aussichten im immer schlechter bezahlten Markt für viele Darsteller ungewiss.
Für die jungen Künstler heißt das Aufnahmeverfahren vor allem: warten. Bis zu zehn Stunden sind keine Seltenheit, ehe endlich ihre Nummer aufgerufen wird. Die Kandidaten bleiben für die Juroren anonym. Nachwuchs aus bekanntem Haus soll keinen Startvorteil bekommen.
Die engagierte Linzerin im Faltenrock wird bei ihrem ersten Antritt scheitern. „Aber die Reise geht weiter“, sagt sie danach. Es sei vielleicht naiv, diese Karriere einzuschlagen, aber sie könne nicht anders. Der Entscheidungsprozess dauert bei den Juroren – drei von ihnen gingen selbst am Institut in die Lehre – nicht lange. „Ich weiß in der ersten Runde nach etwa zwei Sekunden, ob der Funke da ist, den man braucht. Das kann man auch im Seminar nicht lernen“, sagt Institutsleiterin Metelka. Während in den ersten beiden Runden vor allem auf Talent und Ausstrahlung geachtet werde, gehe es in der letzten Runde um die Teamfähigkeit, sagt die 44-Jährige.
Gute Chancen haben beim Vorsprechen außergewöhnliche Charaktere. „Wir wollen Typen ausbilden, keine durchschnittlichen Thea- terschauspieler“, so Metelka, die das Seminar seit 2014 leitet. Früher stand die Sprachtrainerin selbst auf der Bühne: elf Jahre im Ensemble des Wiener Burgtheaters. Die Studenten müssten eine gewisse persönliche Reife vorweisen können. „Die Schauspielausbildung ist keine Psychotherapie.“Trotzdem gebe es immer wieder dramatische Szenen auf den Fluren des idyllisch gelegenen Seminars. „Wir sind es gewohnt, dass Konflikte auch mal sehr laut bewältigt werden.“
Eine Altersbegrenzung für das kostenfreie Studium gibt es nicht. Abgezielt wird aber auf junge Künstler am Anfang einer möglichen Karriere. Hernach sei vieles schon zu eingefahren, zu antrainiert. Die Darsteller sollen für die rund 60 hochkarätigen Lehrenden mit großen Namen in der Branche binnen vier Jahren noch formbar sein. Der Großteil der Kandidaten stammt aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Für den Leipziger Michel Ben Seidel kommt das siebte Vorsprechen. In Hamburg ist er bereits erster Nachrücker für die Schauspielschule. „Mich fasziniert, wie man Menschen berühren kann und ihnen die Augen öffnen kann auf der Bühne“, sagt der 18-Jährige. Es gehe ihm nicht um Ruhm oder Reichtum, nur um das Spielen an sich.
Voller Leidenschaft für das Schauspiel geben sich nahezu alle Kandidaten in den kühlen Hallen vor dem Theatersaal. Trotz der Prognosen: Fixe Engagements sind selten, die Konkurrenz ist hart. Die Liebe zum Beruf überträgt sich auf die Zuschauer: „Da kriegt man dann schon mal Gänsehaut“, sagt Juror Florian Reiners. Der gebürtige Niedersachse absolvierte in den 1990er Jahren selbst das Seminar und ist nun Professor für Sprachgestaltung.
Viele berühmte Absolventen hat die Wiener Schmiede, die Teil der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien ist, hervorgebracht: Senta Berger, Ute Lemper, O. W. Fischer, Gunther Philipp, Peter Alexander, Hannes Jaenicke. Das Seminar gilt neben der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und der Otto Falckenberg Schule in München als besonders renommiert.
„Wenn Sie gute Komödianten werden wollen, dürfen Sie weder auf der Bühne noch im Leben Komödie spielen. Werden Sie wesentlich!“, so forderte Max Reinhardt bei der Eröffnungsrede des Seminars 1929. Der 1873 geborene Künstler galt als wichtigster Theatermann seiner Zeit. Und er war Mitbegründer der Salzburger Festspiele. Die Nazis zwangen ihn zur Emigration in die USA, wo er 1943 verarmt starb.
Die Frage nach ihren eigenen finanziellen Aussichten beschäftigt die Schauspieler heutzutage viel mehr, findet Institutsleiterin Metelka, verheiratet mit Nicholas Ofczarek: „Wir leben in einer neoliberalen, kapitalistischen Welt. Umso mehr Feuer nehmen unsere Kandidaten mit, weil es eine Entscheidung gegen die Sicherheit und für die Kunst ist.“