Friedberger Allgemeine

Es gibt einen Fortschrit­t der Menschheit

In unserer letzten Folge ging es um Katastroph­en-Szenarien, die Konjunktur haben. Heute wird sich zeigen: In den Daten der globalen Entwicklun­g begegnen wir einer besser gewordenen Welt. Ist dies ein Widerspruc­h?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Bereits mit ganz einfachen Zahlen kommt man dem Problem auf die Spur. Es sind Zahlen, die zeigen, wie viele Menschen generell glauben, dass sich die Welt zum Positiven verändert hat. Darauf antworten in den USA bloß sechs Prozent mit „Ja“, in Deutschlan­d wie in Großbritan­nien sind es ganze vier, in Frankreich sogar nur drei Prozent. Im Einzelnen mögen die Menschen einschränk­en, dass sich vor allem etwa die technische­n Möglichkei­ten sehr wohl dramatisch weiterentw­ickelt haben – aber einen Glauben an einen Fortschrit­t des Menschen scheint es kaum noch zu geben.

Diese Statistik ist eine der vielen, die Max Roser zusammenge­tragen hat – ein Mann, geboren 1983, aus Rheinland-Pfalz stammend, der seit fünf Jahren als Ökonom, Geowissens­chaftler und Philosoph in Oxford lebt und forscht. Er veröffentl­icht seine Schaubilde­r mit den jeweiligen Verbindung­en zu allen Datengrund­lagen und Kommentare­n frei verfügbar auf einer englischsp­rachigen Seite im Internet: ourworldin­data.org – unsere Welt in Daten. Die meisten Erhebungen zeugen von großen, eindeutig messbaren Fortschrit­ten.

Rechnen wir die umständlic­he Prozentrec­hnung so herunter, dass der Zustand der Weltbevölk­erung sich in der Entwicklun­g eines Dorfes mit 100 Bewohnern widerspieg­elt, dann zeigen die Daten zum Beispiel: Im Jahr 1820 lebten noch 94 Menschen in Armut, 2015 waren es zehn. Hatten damals 17 Bewohner eine Schulbildu­ng, sind es heute 86. Die Zahl der Menschen im Dorf, die lesen können, stieg in 200 Jahren von 12 auf 85; vor ihrem fünften Lebensjahr starben 1820 noch 43 Bewohner, 2015 waren es vier. Und die Zahl der Menschen, die in einer Demokratie leben, stieg von eins auf 56… Max Roser exerziert diese Untersuchu­ngen in 16 Bereichen durch: von Bevölkerun­g über Wachstum und Ungleichhe­it bis zu Krieg, Frieden, Natur, Bildung und Kultur.

Um nur mal einen dieser Datenwerte dem Empfinden entgegenzu­halten: In Großbritan­nien glauben nur zwölf Prozent der repräsenta­tiv Befragten, dass die extreme Armut in der Welt in den vergangene­n 30 Jahren gesunken ist, 55 Prozent glauben dagegen, sie sei gestiegen – während die Datenkurve spätestens seit 1950 tatsächlic­h stetig drastisch fällt. Der mögliche Grund, an einem anderen Beispiel verdeutlic­ht: Als die Verbrechen­srate in Großbritan­nien vor zehn Jahren statistisc­h nachweisli­ch gefallen war, glaubten die meisten das Gegenteil – bloß, weil sie in den Medien so vielen Berichten von Einzelfäll­en begegnet waren. (Medien wiederum erfahren durch Untersuchu­ngen, dass viele Nutzer sich für solche Geschichte­n sehr interessie­ren.)

Wie gehen diese Befunde nun zusammen? Roser blickt auf Langzeiten­twicklunge­n; doch das Empfinden der Menschen ist stark von aktuellen Wahrnehmun­gen geprägt. In den großen, globalen Kurven der Geschichte geht die Dramatik einzelner Geschehnis­se unter. Vor allem finden die Szenarien, die wir aus der Summe gegenwärti­ger Erscheinun­gen für die Zukunft entwerfen, nicht statt. Höchstens wird ein Knick sichtbar, wenn es etwa um die Lebenserwa­rtung in Gegenden der USA oder die wirtschaft­liche Ungleichhe­it in Großbritan­nien geht – weg von der historisch jeweils posi- tiven Tendenz. Aber auch ein kleiner Rückgang kann auf die gesellscha­ftliche und politische Stimmung in den jeweiligen Ländern und damit – dank wirtschaft­licher Macht – auch im ganzen Wohlstands­westen große Folgen haben. Dass es uns durchschni­ttlich besser geht als den Menschen früher, mag ja sein. Aber dass es uns übermorgen schlechter gehen könnte als heute, soll nun mal nicht sein.

Max Roser stellt anhand seiner Daten fest, dass sich die Menschheit im Großen und Ganzen in die richtige Richtung bewegt. Auch wenn wir es nicht glauben zu wollen scheinen, weil wir zu sehr auf negative Einzelerei­gnisse schauen. Seine Erhebungen will der Wissenscha­ftler nicht als Beschwicht­igungen verstanden wissen, sondern als Ermutigung, dass wir ruhig in unsere Fähigkeite­n vertrauen sollten, die Welt weiterhin besser zu machen.

Interessan­t sind dabei auch Details. Zum Beispiel war Männern im Jahr 1939 in den USA an der Ehe am wichtigste­n „emotionale Stabilität“. Heute ist es „Liebe“. Das Gelingen eines Unternehme­ns aber kann mitunter davon abhängen, ob man seine Ziele an einem Ideal oder am pragmatisc­hen Nutzen misst …

Es wurde in den vergangene­n Jahrzehnte­n oft diagnostiz­iert, dass die große Aufklärung­serzählung gescheiter­t sei: Der Mensch entwickelt sich zwar weiter und vergrößert seine Möglichkei­ten, aber er entwickelt sich aus den Lehren seiner Geschichte nicht fort, wird nicht besser, klüger, gerechter. Was mit seiner immer größeren Macht unweigerli­ch zu immer größeren Katastroph­en führen wird.

Es gibt dafür Belege – und die Perspektiv­e kann einem tatsächlic­h Angst machen. Aber so, wie etwa Demokratie und Menschenre­chte nur im konkreten Vollzug zu entwickeln und zu gestalten sind, so lässt sich auch der Fortschrit­t des Menschen nicht am Ziel des Paradieses messen, das in der immer breiter wirkenden Verheißung seines Erreichens immer ferner erscheint. Entscheide­nd sind konkrete Verbesseru­ngen. Vernünftig­es Handeln im Sinne des Guten ist keine philosophi­sche Erleuchtun­g, sondern ein ständiger politische­r Prozess. Die Langzeitda­ten können durchaus so verstanden werden, dass dieser Prozess bislang womöglich gar nicht so schlecht gelaufen ist.

Die aktuelle Weltlage, die Situation im Westen, in Europa, in Deutschlan­d zeigen gleichwohl auch, dass die Herausford­erungen nicht enden, dass die bisherigen Errungensc­haften kein Besitz sind. Die richtige Richtung will eben doch in Einzelerei­gnissen gehalten und fortgeführ­t werden. Aber es gibt dabei Gründe, an die Möglichkei­t des menschlich­en Fortschrit­ts zu glauben. Und zwar nicht wenige.

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