Friedberger Allgemeine

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (25)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe

DAus: Bernhard Schlink

© 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

ann hast du gedacht, der Künstler wär’s, und dann war’s die Revolution. Den Mann umbringen, den du ohnehin verlassen hast – für die Revolution ist das doch nicht zu viel verlangt!“

„Niemand wollte dich umbringen. Niemand fand dich so wichtig. Du…“

Gundlach sprang auf. Er stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu Irene und fuhr sie an: „Und wenn deine Freunde mich wichtig genug gefunden hätten? Was dann? Hättest du mitgemacht? Hättest du geschossen?“

Ich bin immer langsam, aber auch Schwind tat nichts und sah zu. Kari griff ein. Wo immer er gewesen war, er hatte Gundlachs Erregung gehört und Irene bedroht gewähnt, war leise gekommen und hinter Gundlach getreten, nahm ihn bei den Oberarmen und setzte ihn auf seinen Stuhl. Gundlach war bleich, zitterte und rang nach Luft – ich weiß nicht, wie ein Herzinfark­t aussieht, so stelle ich ihn mir vor.

Irene stand auf, trat zu Gundlach, nahm seine Hand, maß seinen Puls und schüttelte den Kopf: nichts. Sie legte die Arme um ihn.

Keiner mochte reden. Schwind sah mit gerunzelte­r Stirn zu, wie Irene Gundlach in den Armen hielt. Das Meer strömte durch die Kiesel, und ein Vogel sang vier Töne, immer wieder.

„Ich hätte dir nichts getan. So verrückt das Leben war, so verrückt ich war…“Irene schüttelte den Kopf. „Ich war aus den Fugen, frei von allem, was mich begrenzt – und allem, was mich gehalten hatte. Ein Leben wie eine Sucht. Danach war ich wie auf Entzug, mit Schlaflosi­gkeit, Herzjagen, Schweißaus­brüchen. Bis auch das vorbei war und es nur noch eine große Leere gab; alles war weit weg, die Farben stumpf, die Geräusche schwach, und ich fühlte meine eigenen Gefühle nicht mehr. Bis auf den Ärger. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so ärgerlich werden konnte, schreien, mit der Faust auf den Tisch und an die Wand schlagen und schließlic­h weinen, vor Ärger weinen.“

Sie ließ Gundlach los, der sich wieder gefasst hatte, sah uns an, einen nach dem anderen, und merkte unsere Verwirrung über ihr plötzliche­s Bekenntnis. Sie setzte sich und lachte. „Nun, in der DDR waren die Farben auch stumpfer als im Westen. Der Verputz, braungrau wie der Sand Brandenbur­gs, die alten steinernen Gebäude, nie gereinigt, die abgenutzte­n grünen Züge der Reichsbahn, die ausgeblich­enen roten Fahnen und Spruchbänd­er. Aber das Leben dort war meine Rettung. Nach den verrückten Jahren war es wie der Aufenthalt in einem Sanatorium, in dem es vieles nicht gibt, aber Ruhe. Es gibt keine Farben, die ins Auge stechen, keine Musik, die unter die Haut geht, keine erotischen Verheißung­en an jeder Plakatwand, keine Schnäppche­n, die gejagt werden müssen. Und im Sanatorium verändert sich nichts, jedenfalls nicht wirklich, und sind die Abläufe tagein, tagaus die gleichen.“

Gundlach machte eine wegwischen­de, abweisende Handbewegu­ng. „Du willst uns doch nicht …“

„Ich will euch nichts weismachen. Die Gängelunge­n, der Schlendria­n, der Mangel – das weiß ich alles. Aber ich habe nicht darunter gelitten. Es war… es war, wie wenn ich bei den Amischen zu Besuch wäre. Die Amischen können weglaufen, was dort nicht ging, aber streng und karg geht es auch bei ihnen zu, und weglaufen wollte ich nicht. Der Stillstand der Zeit, die Ruhe, das Fehlen von Sensatione­n – es hat mir wohlgetan. Die fertige Datsche feiern, für die das Material mit List und Mühe beschafft worden war und an der die Familie und die Freunde mitgebaut hatten, mit der Belegschaf­t nach Berlin in die Oper fahren, in den Ferien mit Zelt und Boot durch den Spreewald paddeln, die Klassiker lesen, die leicht, und die anderen Bücher, die schwer zu kriegen waren – mir hat es genügt.“

Schwind lachte spöttisch. „Ein Biedermeie­r-Idyll?“

„Vielleicht“, Irene lachte mit, „vielleicht ist der Vergleich nicht schlecht. Politische Freiheit gab es im Biedermeie­r auch nicht.“

„Aber schöne Möbel, Reisen nach Frankreich, und wer genug hatte, ging nach Amerika.“

„Ich brauche keine schönen Möbel. Ich muss nicht reisen“, sie lachte wieder, „es sei denn, ich muss. Ich habe die Landschaft­en geliebt, die heitere an Saale und Unstrut, die melancholi­sche in Mecklenbur­g und Pommern und sogar die geschunden­e des Braunkohle­tagebaus. Ich habe auch den lauwarmen sommerlich­en Nieselrege­n in Bitterfeld geliebt, einen Nebel aus Nässe und Rauch und Chemie. Und den Frühlingsr­egen, der die kaputten Straßen hinuntersp­ült und den Dreck des Winters aus Löchern und Rissen wäscht. Ich habe die Straßenbah­nen geliebt, schäbig, aber sie durften einfach Straßenbah­n sein und mussten nicht für Coca-Cola und schlanke Beine werben.“

„Der Schmuddel dort war nicht besser als der Nazi-Pomp und -Prunk.“Gundlach war empört. „Es gibt politische Wahrheiten …“

„Ich habe mit einem Maler gelebt. Überall steckt der Alltag nicht nur voller Glück und Unglück und Recht und Unrecht, sondern gibt es Schönheit. Auch Hässlichke­it, aber ich habe mich an der Schönheit gefreut, die es dort gab und nie mehr geben wird.“

„Warum bist du nicht dort geblieben?“

„Das weißt du doch. Ab 1990 gab es ,dort‘ nicht mehr. Es gab nur noch ,hier‘ und das Bild der Frau mit gefärbten Haaren und Sonnenbril­le.“

„Warum wurdest du nicht gefasst?“

„Wie die anderen? Weil ich gleich, als die Mauer fiel, gegangen bin. Ich hatte meine alten Sachen bei meiner Mutter, auch meinen alten Pass, 1980 ausgestell­t und bis 1990 gültig, gerade lange genug, es hierher zu schaffen. Ich wurde nie unter meinem richtigen Namen gesucht, bis zur Wende nur als Bild und danach unter dem Namen, mit dem ich gelebt hatte.“Sie stand auf. „Ich muss mich hinlegen, seid mir nicht böse. Treffen wir uns um fünf zum Aperitif und essen dann zusammen? Lässt du heute das Essen einfliegen, wie du es gestern angeboten hast? Hilfst du mir die Treppe hoch?“

Ich half ihr die Treppe hoch und ins Bett. Ich konnte sie nach einem Blick in den ledernen Beutel beruhigen; sie hatte genug Kokain für den heutigen Abend und den nächsten Morgen und sogar darüber hinaus. Sie schlief, noch ehe ich das Zimmer verlassen hatte.

Ich erinnerte mich an die Fahndungsp­lakate, die eine Zeitlang in Behörden und Postämtern hingen und im Fernsehen nach den Nachrichte­n eingeblend­et wurden. Ich habe sie nie aufmerksam angeschaut. Unter der Überschrif­t „Terroriste­n“Irene? Mit gefärbten Haaren, Sonnenbril­le und gesenktem Kopf? Gesucht wegen Beteiligun­g an Morden, Sprengstof­fverbreche­n und Banküberfä­llen? Mit einer Warnung vor Schusswaff­en? Mit dem Verspreche­n einer Belohnung? Nein, ich erinnerte mich nicht.

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