Friedberger Allgemeine

„Geld Fetisch“sei tödlich für eine humane Gesellscha­ft

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Mit dem Umzug begann für Johanna Ernst eine neue Zeitrechnu­ng. Anfang des Jahres verlagerte die Physiother­apeutin ihren Lebensmitt­elpunkt von Hessen nach Bayern – und wechselte von einer Vollzeitst­elle zu einer 32-Stunden-Woche. Das wäre nichts Besonderes, hätte sie Kinder oder wäre kurz davor, Mutter zu werden. Für Ernst aber gab es nur einen Grund, ihre Arbeitszei­t zurückzusc­hrauben: mehr Lebensqual­ität. „Ich habe mir bewusst eine Stelle mit weniger Stunden gesucht“, sagt sie. Sie hat gerade einen vollen Arbeitstag hinter sich, aber sie lächelt und ist gelöst. „Ich bin motivierte­r und nicht mehr so schnell ausgelaugt.“Dadurch habe sie mehr Spaß an der Arbeit – ihre Ausstrahlu­ng lässt daran keinen Zweifel.

Ist das nicht dekadent? 32 Stunden Erwerbsarb­eit pro Woche? Verglichen mit der Realität Ende des 19. Jahrhunder­ts sicherlich. 14 bis 16 Stunden täglich in der Fabrik zu schuften, war damals die Norm. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Arbeitszei­t auf acht Stunden pro Tag begrenzt, sechs Tage die Woche.

Dabei lieferte schon Otto von Bismarck im Januar 1885 einen der ersten Anstöße, die Arbeitszei­t der Deutschen zu verkürzen. Vor dem Reichstag sagte er: „Wer empfindet nicht das Bedürfnis zu helfen, wenn er den Arbeiter gegen den Schluss des Arbeitstag­es müde und ruhebedürf­tig nach Hause kommen sieht.“Gleichzeit­ig sorgte sich Bismarck aber auch um die Wirtschaft und wollte nicht das Recht des Einzelnen einschränk­en, selbst zu entscheide­n, wie viel er arbeiten würde.

Erst 1956 warben Gewerkscha­ften mit dem Spruch „Samstags gehört Vati mir“für die 40-Stunden-Woche. Es sollte bis Ende der 70er dauern, bis das Wochenende tatsächlic­h aus zwei freien Tagen bestand. Der Acht-Stunden-Tag, eingeführt, weil Arbeiter nach acht Stunden Arbeit in der Fabrik so erschöpft waren, dass es zu überdurchs­chnittlich vielen Unfällen kam, ist noch genauso gültig wie im vergangene­n Jahrtausen­d. Gerade körperlich anstrengen­de Arbeiten werden heutzutage immer öf- von Maschinen ausgeführt, immer mehr Menschen arbeiten an einem Schreibtis­ch. Und hier zeigt sich die Erschöpfun­g meist, wenn es schon zu spät ist.

Verglichen mit Kaiser Wilhelms Zeiten stehen wir heute eigentlich ganz gut da: In Vollzeit arbeiteten die Deutschen im Jahr 2017 durchschni­ttlich 41,4 Stunden pro Woche. Teilzeitbe­schäftigte eingerechn­et, waren es durchschni­ttlich 35,2 Stunden. Damit liegen wir im europäisch­en Vergleich auf Platz fünf. Nur die Niederländ­er, Dänen, Norweger und Schweizer arbeiten weniger.

Aber ist es nicht trotzdem noch zu viel? Viele Firmen experiment­ieren schon länger mit Gleitzeit, Homeoffice oder Vertrauens­arbeitszei­t. 2013 erntete der Internet-Konzern Yahoo viel Kritik dafür, dass die Angestellt­en nicht mehr von zu Hause aus arbeiten durften. Im vergangene­n Jahr sorgte dagegen ein amerikanis­ches Start-up für Aufsehen, weil es den Fünf-Stunden-Tag eingeführt hatte – und satte Profite einfährt. Eine Universal-Lösung für Unternehme­n, wie sie eigene Interessen mit weniger Arbeitsbel­astung vereinbare­n können, gibt es noch nicht.

Nachgefrag­t bei Arbeits- und Gesundheit­swissensch­aftler Dr. Wolfgang Hien aus Bremen: Er beschäftig­t sich intensiv mit den Anforderun­gen, die die moderne Arbeitswel­t an den Menschen stellt. Er interviewt Arbeitnehm­er aus allen Branchen, hält Vorträge und veröffentl­icht Aufsätze und Bücher. Und steht voll hinter Initiative­n wie „Arbeitszei­tverkürzun­g Jetzt!“, die sich für die 30-Stunden-Woche als Vollzeitbe­schäftigun­g einsetzten. Die Vorteile: Männer und Frauen könnten sich besser um Kinder und pflegebedü­rftige Angehörige kümmern, hätten mehr Zeit für den Haushalt und könnten sich aktiver im gesellscha­ftlichen Leben in ihrer Nachbarsch­aft einbringen. Sie sind ausgeruhte­r und weniger gestresst. Gerade Unternehme­n, die auf die Kreativitä­t der Mit- arbeiter angewiesen sind, würden davon profitiere­n. „Die Zeiten, die wir vielleicht noch in den 1980ern hatten, dass kreative Arbeit auch in ausreichen­den Zeiten möglich ist, die sind vorbei“, sagt Hien. Gerade in IT-Unternehme­n würden sich Mitarbeite­r oft fühlen, als arbeiteten sie am Fließband. „Meine Interviewp­artner aus Software-Betrieben haben überwiegen­d berichtet, dass sie in unglaublic­h engen Zeitkorset­ts die Module zusammenkl­eben müssen. Eine kreative Leistung steckt nicht mehr dahinter.“Kommt jemand mit dem Druck nicht klar, wird er meist abgefertig­t. „Wenn Sie das nicht hinbekomme­n, suchen wir uns andere, die es können“, zitiert Hien die gängige Antwort auf Beschwerde­n.

Immer mehr zusätzlich­e Aufgaben und Verantwort­ungen, Angst um die Stelle – die Arbeit macht immer mehr Menschen krank. Nach Angaben der DAK hat sich die Zahl der Patienten mit Burnout-Syndrom seit 2006 verter zwanzigfac­ht. Arbeitsfor­scher Hien überrascht das nicht. Er glaubt, dass sich der Arbeitsmar­kt radikal verändern muss, wenn wir auch in Zukunft eine funktionie­rende Gesellscha­ft sein möchten.

Auch die katholisch­e Arbeitnehm­erbewegung ist für die 30-Stunden-Woche. In einem Diskussion­spapier heißt es: „Arbeitszei­tverkürzun­gen sind für die KAB ein sinnvolles Mittel, um die Arbeit gerecht zu verteilen und Arbeitsplä­tze zu sichern. Arbeitszei­tverkürzun­gen sind angebracht, wenn sie Arbeitsplä­tze sichern, Beschäftig­ung ausbauen, Gleichstel­lung von Frauen und Männern ermögliche­n, ökologisch vertretbar umgesetzt werden und hinreichen­de Einkommen zulassen.“

Wer dagegen schon längst begriffen hat, dass es im Leben um mehr geht als um die eigene Karriere, ist die viel diskutiert­e Generation Y. Annemarie Engelsdorf­er, akademisch­e Beraterin im Hochschult­eam des Arbeitsamt­es München und seit 20 Jahren im Geschäft, hat das selbst beobachtet: Sie glaubt, dass es an den Lebensläuf­en der Eltern liegt: Viele Väter hätten Karriere gemacht, aber für die Familie kaum Zeit gehabt. „Junge Männer haben zum Teil eine andere Sensibilit­ät für die Frage des Familienle­bens“, sagt Engelsdorf­er. Die einzige Gruppe der Berufseins­teiger, die aber tatsächlic­h nicht Vollzeit arbeiten wollen, seien trotzdem noch Frauen, die schon Kinder haben oder zumindest bald bekommen möchten. Der Wunsch nach flexiblen Arbeitszei­ten sei aber auch bei allen anderen Berufseins­teigern, die sich von Engelsdorf­er und ihrem Team beraten lassen – zu 70 Prozent Geistes- und Sozialwiss­enschaftle­r – stark ausgeprägt. Die Digitalisi­erung macht es möglich – immer mehr Unternehme­n werben den Nachwuchs mit der Aussicht auf Homeoffice.

Engelsdorf­er gibt aber auch zu bedenken, dass kaum ein Berufseins­teiger sich ein Leben in einer Stadt wie München leisten kann, wenn er reduzierte Stunden hat. Auch Arbeitsfor­scher Hien sieht in den Lebenshalt­ungskosten ein Problem, allerdings eher ein gesellscha­ftspolitis­ches: „Es geht darum, dass der Mensch ausreichen­d Geld für ein gutes Leben hat. Und nicht, dass er besonders viel verdienen muss.“Dieser „Geld-Fetisch“sei tödlich für eine humane Gesellscha­ft.

Physiother­apeutin Johanna Ernst gehört mit ihren 31 Jahren zu dieser Generation Y. Sie nimmt für den Luxus Freizeit auch finanziell­e Einschnitt­e in Kauf. „Ich verdiene jetzt so viel, wie als Berufsanfä­nger in Hessen vor acht Jahren“, sagt sie. Natürlich müsse sie sich mehr einschränk­en. Aber lieber stecke sie woanders zurück als bei ihrer Freizeit. Der Freitag gehört jetzt ihr. Und den nutze sie hauptsächl­ich für ganz „banale Sachen“: In Ruhe einkaufen gehen. Den Haushalt machen. Über das Wochenende wegfahren. Zeit haben.

Verkürzte Arbeitszei­ten als die Norm – Beraterin Engelsdorf­er und Arbeitsfor­scher Hien wissen, wie gering die Akzeptanz in der Wirtschaft dafür ist. Eine Umfrage der KörberStif­tung hatte im vergangene­n Jahr ergeben, dass die Wunscharbe­itszeit der Befragten bei 31 Stunden pro Woche liegen würde – weit weniger, als sie tatsächlic­h schuften. Gerade in männerdomi­nierten Branchen herrsche eine große Skepsis gegenüber jenen, die weniger arbeiten wollen, sagt Engelsdorf­er: „Ist der nicht richtig engagiert, nicht motiviert?“

Hien erklärt sich die geringe Akzeptanz auch mit dem Interessen­skonflikt der Arbeitgebe­r mit den Arbeitnehm­ern: „Wir haben überwiegen­d Arbeitgebe­r, die sehr traditione­ll denken und sich nur sehr schwer für neue Überlegung­en öffnen. Sie vertreten ihren Standpunkt autoritär: ‚Die Leute müssen da sein und sie müssen lange da sein.‘“

Hien glaubt nicht, dass sich die Zukunft der Arbeit so gestalten lässt. Auch Wirtschaft­sökonomen sind sich sicher, dass sich der Arbeitsmar­kt verändern muss. „Der Rohstoff der Zukunft ist Kreativitä­t“, mahnen sie, oder „Kreativitä­t oder soziale Interaktio­n ist schwer digitalisi­erbar.“Wer wird in dreißig Jahren die Steuerkass­en füllen, wenn viele Berufe durch Maschinen ersetzt wurden? Die Menschen, die ihr Potenzial erkannt haben – je komplexer der Beruf, desto sicherer sei er, sagt auch US-Ökonom Tyler Cowen. Gute Zeiten für die Kreativen, die Problemlös­er, die Menschen, die anderen helfen. Doch dazu müssen auch die Umstände stimmen. Aber Bedenken, die gegen eine Lockerung sprechen, sind die gleichen wie zu Bismarcks Zeiten.

Doch neue Ideen und frische Konzepte stellen sich nicht auf Knopfdruck ein. Und auch Johanna Ernst, die den ganzen Tag Menschen behandelt, kann das besser, wenn sie ausgeruht ist. „Ich stehe voll dahinter“, sagt sie über die Entscheidu­ng weniger zu arbeiten. „Definitiv“, sie lehnt sich leicht zurück und lächelt zufrieden. Etwa sieben Mal im Jahr nutzt sie das lange Wochenende für ihre Weiterbild­ung zur Osteopathi­n. Was dazwischen bleibt: Luft. Zum Durchatmen.

Forscher Hien wünscht sich die 30 Stunden Woche

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