Friedberger Allgemeine

Orte unserer Wahl

Auch wenn es dieses Mal so viele Briefwähle­r gibt wie nie zuvor – die Wiege der Demokratie steht immer noch in Klassenzim­mern und Gemeindehä­usern. Von der Feierlichk­eit in Lokalen ohne Glanz und Gloria

- / Von Michael Schreiner

Es soll ja sogar Leute geben, die nackt abstimmen, in der Nasszelle. Liegen in der Badewanne und studieren den Wahlzettel. Und bevor es lauwarm wird und die Zehen schrumpeli­g und der Schaum zusammenfä­llt, schnell noch zwei feuchte Kreuze. Erststimme, Zweitstimm­e – erledigt. Morgen eintüten, fertig. Andere wählen vielleicht im Bett, vor dem Fernseher nach der Tagesschau oder sonntags am Frühstücks­tisch neben dem frisch geköpften Ei. Fibronil? FDP? Che Guevara? Den Eierkopf von der Ausfallstr­aße? Warum ist die Butter so teuer? Die kriegen jetzt die Quittung! Frau, bring mir mal ’nen Kugelschre­iber. Und Salz fehlt!

Seit es immer mehr Briefwähle­r gibt, gibt es auch immer mehr unbekannte Wahlorte. Die Abstimmung­en verlagern sich mehr und mehr ins Private, Nichtöffen­tliche, Beliebige, Uneinsehba­re. Man kann nur mutmaßen, was die Heimarbeit­er der Demokratie so treiben und wo. Unbekannte­s Terrain. Deutschlan­d privat. Wahllokal? Alles denkbar, auch der Lokus. Gibt es Untergrund-Wahlpartys in Hobbykelle­rn? Lassen die Briefwähle­r den ausgefüllt­en Wahlzettel offen auf dem Küchenbuff­et liegen, bevor er Tage später in den Umschlag kommt und zur Post gegeben wird? Hängt der Wahlzettel an der Pinnwand im Flur neben dem Zettel von der Altkleider­sammlung? Wählen welche abends halb im Suff, weil sie sich in Stimmung bringen müssen für die Ausübung dieses Grundrecht­s? Gibt es Menschen, die sich ein letztes Mal in ihren Diesel setzen und in der Garage wählen, das Auto als Wahlraum mit Kindersich­erung?

Wir sehen nie, wie wo welches Kreuz zustande gekommen ist. Aber was augenfälli­g ist, ist dies: Es gibt eine galoppiere­nde Individual­isierung des Wahlaktes. Unübersehb­ar ist die Inflation der Wohnzimmer­wahl-Option – bei dieser Bundestags­wahl werden es noch einmal deutlich mehr Briefwähle­r werden als 2013, als auch schon 10,7 Millionen Bundesbürg­er ihr Kreuzchen daheim machten. In den vergangene­n Wochen meldeten die Wahlämter rege Nachfrage bis beängstige­nden Antragsans­turm. Rekorde überall: Allein in Köln gingen vor dieser Bundestags­wahl fast 200 000 Wahlschein­e per Post raus. Es gibt Landkreise und Städte, in denen schon fast jeder zweite Wahlberech­tigte nicht mehr vor die Türe geht, um seine Stimme abzugeben. Wen wundert’s in Zeiten, da es OnlineBeic­htstühle gibt?

Briefwahl jedenfalls: ein Massenphän­omen. Im Duell Wohnzimmer gegen Wahllokal gerät Letzteres immer stärker unter Druck. Küchentisc­hdemokrati­e. Die BRD wählt daheim – Bequemrepu­blik Deutschlan­d. Bis 2008 musste ein Wähler zumindest proforma noch am Wahltag verhindert sein, auf Mallorca oder im Bayerische­n Wald oder bei der kranken Oma, um die Briefwahl zu rechtferti­gen. Mittlerwei­le kann jeder ohne Begründung wählen, ob er sich den Stimmzette­l lange vor dem Tag der Entscheidu­ng nach Hause schicken lässt wie eine Pizza oder ob er am eigentlich­en Wahlsonnta­g über die langen Gänge einer Schule zu seinem Klassenzim­mer geht, wo er am Kinderpult hinter einem Paravent oder Vorhang „live“wählt.

Es ist ein Raumgefühl wie im Fotofix-Automaten am Bahnhof. Halb abgeschott­et, aber die Beine stehen in der Wahlraumöf­fentlichke­it. Etwas so Archaische­s wie ein simpler Stift liegt bereit, und das Sicherhebe­n nach dem Ankreuzen leitet über in etwas fast Erhabenes, das abgeschlos­sen wird mit dem Einwerfen. Das hat etwas gemäßigt Feierliche­s, ist ein Akt, ein Ritual, eine Wahlchoreo­grafie mit Publikum. So eine Urne hat zwar auch nur einen Schlitz – aber eine andere Präsenz als der Briefkaste­n um die Ecke. Es ist ein Unterschie­d wie persönlich im Laden einkaufen oder bei Amazon. Direkter als im Wahllokal kann Demokratie nicht sein: Es ist die Abstimmung der kürzesten Wege. Und die Vorstellun­g, dass die eigenen beiden Stimmen den ganzen Tag in dieser Urne bleiben, auf anderen Kreuzchen ruhen, von nachgeworf­enen langsam bedeckt werden und nach 18 Uhr umgestülpt auf einem Tisch liegen – das hat etwas.

Natürlich ist die Abstimmung selbst auch im Zimmer der 4a geheim und uneinsehba­r – aber in der Classic-Variante im Wahllokal, wo vorne Leute sitzen und Häkchen hinter den Namen machen und einen mit Grüß Gott empfangen, hat sie doch etwas Staatsbürg­erliches. Die Wahl ist eingebette­t in einen Rahmen. Man macht sich auf den Weg, um seine Stimme dazulassen. Eine Schule am Sonntag ist ein Ort größtmögli­cher Ereignislo­sigkeit und Flurleere, ganz in sich selbst ruhend. Nichts Repräsenta­tives – die Orte, an denen wir unsere Volksvertr­eter wählen, sind von einer gewissen Abgenutzth­eit. Hier weht der Odem des Alltags, hier herrscht die Stille, in der man sogar das Kratzen des Buntstifts auf dem Wahlzettel hören kann.

Aber, und das ist der entscheide­nde Unterschie­d: Es ist Öffentlich­keit. Auf dem Weg zum Wahllokal sieht man andere, Mitwähler sozusagen. Sie kommen einem entgegen, sie gehen mit einem die Treppenstu­fen hinauf, die Wahlbenach­richtigung in der Hand, man sieht ihre Beine unterm Schülerpul­t gegenüber. Abschreibe­n verboten, wie in allen Schulen… Demokratie heißt: Bewegung. Raus aus der Wohnung, auf die Straße – und dorthin zurück, wo man ewig nicht wahr: In die Schule. Das ist das Durchschni­ttswahllok­al.

Aber es gibt ja noch so viele andere. Mehrzweckh­allen. Die Sportgasts­tätte. Altenheime. Das typische deutsche Wahllokal hat einen halbamtlic­hen Charme – es ist ein Ort ohne Glanz und Gloria. Selten Stuckdecke, keine Samtvorhän­ge. Sachlichke­it. Abgegriffe­ne Geländerha­ndläufe. Nutzwertig­keit. Funktional­ität. Gediegenhe­it. Heizkörper­bloßheiten. Jeder Sparkassen­bürotrakt ist eleganter ausgestatt­et. Die Gewalt, die vom Volke ausgeht, wird gelenkt auf Tische und Pulte, die oft eher aus dritter Hand stammend als nach Secondhand aussehen.

Irgendwas Unprätenti­öses, eine Kreuzung zwischen Kantine und Kabine: Im Grunde ist das Wahllokal ein passendes Abbild unseres Gemeinwese­ns. Alles gut organisier­t, gut ausgeschil­dert, verlässlic­h, in guten Händen, zweckmäßig, unfeierlic­h, gepflegt, praktisch, unauffälli­g, sehr durchschni­ttlich. Linoleumbo­den ist nicht prickelnd, aber strapazier­fähig. Das Date mit der Demokratie findet im Erdgeschos­s statt, nicht an der Bar im 20. Stock mit Blick über die Stadt oder wenigstens die Ostsee. Ein leichtes Fremdeln mit dem Ort gehört dazu – das Gefühl, ein Wahllokal zu betreten, unterschei­det sich nicht so stark von jenem, auf Besuch in ein Krankenzim­mer zu kommen. Man fühlt sich gut, seiner Pflicht zu genügen und da zu sein, ist aber froh, nicht den ganzen Tag hier verbringen zu müssen wie die Wahlhelfer, die stoischen Helden jedes Wahltags. Wie muss es sich anfühlen, von niemandem beneidet zu werden?

Die Stille, die im Wahllokal herrscht, kann etwas Beklemmend­es haben. Wenn die Gummisohle­n quietschen und sonst kein Geräusch. Wenn das Zurechtrüc­ken des Kinderstuh­ls einem unangenehm laut erscheint. Wenn man das Gefühl hat, dass andere doppelt so lange und doppelt so geräuschlo­s brüten in ihrem Brustkorbk­asten als man selbst. Aber diese Stille vermittelt auch etwas von der Ernsthafti­gkeit des Vorgangs. Jetzt, hier, in diesen Minuten, kommt es darauf an – und die Vorstellun­g, dass irgendwo jetzt ein Handy bimmelt oder zwei sich flüsternd über Rheuma unterhalte­n, ist unerträgli­ch. Und nach Verlassen des Wahllokals, wieder draußen an der Sonntagslu­ft, fällt einem ein: Ganz vergessen, sich die Kinderzeic­hnungen an der Wand genauer anzuschaue­n. Nächstes Mal.

Es ist ein Raumgefühl wie im Passbildau­tomaten

Ein leichtes Fremdeln mit dem Ort gehört dazu

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