Friedberger Allgemeine

Führerlos. Noch.

- EIIN ALBUM DER JJAHRE 1914 BIIS 1918

In knapp fünf Jahren wird seine Ermordung zu dramatisch­en Verwerfung­en führen. Dann wird dieser Walther Rathenau Reichsauße­nminister sein, den Rechtskons­ervativen alles andere als fern stehend, dennoch „erstes Opfer des Dritten Reichs“werdend. Am 28. September 1917 aber ist er noch Industriel­ler, Chef des Aufsichtsr­ats der von seinem Vater gegründete­n AEG, engagiert im Krieg. Und der leidenscha­ftliche Schriftste­ller schreibt im Briefausta­usch mit einem Bekannten:

…Was Sie beklagen, beklage auch ich, und wenn Sie alles zusammenfa­ssen, so lautet es: „Führerlos.“Wir haben genug tüchtige Menschen, und für stille Zeiten reicht das; aber in unseren Tagen erfahren wir, was wir längst wussten: Tüchtigkei­t ist keine Führerscha­ft. Es fehlt diesen Menschen das Inkommensu­rable: Sie wissen bestenfall­s, was ist, sie wissen nicht, was wird. Führerscha­ft aber enthält einen Teil Prophetie; das ist ihre Stärke und ihre Tragik, denn diese Gabe setzt meist aus. Da nun die Menge spürt, dass es an Propheten fehlt, so reden alle Professore­n in Zungen: Das kann den Hörer zum Wahnsinn treiben. Die Menge aber, durch das Berufsdenk­en und die Interessen­sdialektik des Jahrhunder­ts geistig atomisiert, ist nicht mehr zu sammeln und zu verbinden…

Dazwischen eine Bemerkung, dass nur noch die Not die Deutschen zusammensc­hweiße – dass es aber auch ohne wirtschaft­lichen Druck noch nie eine zivilisato­rische Wandlung gegeben habe. Dann: Heute leben wir – das Furchtbars­te dieser grenzenlos­en Verkehrung – in einer unerhörten Hochkonjun­ktur. Die Industrie macht ungeheure Kriegsgewi­nne, der Stundenloh­n des Schlossers ist zwei Mark, die Landwirtsc­haft zahlt ihre Schulden ab. Nach dem Kriege, der noch längst nicht beendet ist, senkt sich langsam über Europa die Not. Wir werden schwer an dieser Zeit zu tragen haben, aber sie wird eine Probezeit sein. Wer dann lebt, sich Hoffnung und Liebe bewahrt, stark und begnadet ist, der wird das, was Sie und ich ersehnen, vielleicht nicht erleben, wohl aber besiegeln helfen…

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