Kuscheln mit Hausbesetzern
Seit sechs Tagen unterbinden Aktivisten, dass an dem Staatstheater gearbeitet werden kann. Der verantwortliche Senator sympathisiert mit den ungebetenen Gästen. Das Recht auf Hausfrieden wird ausgehöhlt
Berlin Chris Dercon ist ein geduldiger, duldsamer Mensch. Sonst hätte er Berlin längst den Rücken gekehrt. Keiner hätte es ihm verübeln können. Monatelang wurde der neue Volksbühnen-Intendant – Nachfolger von Frank Castorf – in einer regelrechten Kampagne von Teilen der Berliner Kulturszene diffamiert. Kultursenator Klaus Lederer (Linke) stellte den Belgier öffentlich infrage. Und jetzt halten selbst ernannte Polit- und Kunstaktivsten sein Volksbühnen-Theater besetzt – und forderten gestern eine (neue) Übergangsintendanz.
Am Wochenende noch hatten sie erklärt, nichts gegen den Intendanten Dercon zu haben; nun erklären sie durch ihr Sprachrohr Sarah Waterfeld: „Wir schlagen eine Interimsintendanz von zwei Jahren vor, um mit Stadt, Senat, Mitarbeitern und Künstlern ein Konzept für die Volksbühne zu entwickeln.“
Woran ist noch zu erkennen, dass Chris Dercon ein geduldiger, duldsamer Mensch ist? Bis 3 Uhr früh diskutiert er mit den Besetzern, die sich im denkmalgeschützten Haus breitgemacht haben, um anschließend auf zwei zusammengeschobenen Klubsesseln im Theater zu übernachten. Und mit seiner Zustimmung haben der für das Staats- theater verantwortliche Senator sowie Vize-Regierungschef Klaus Lederer (Linke) den Besetzern die Nutzung von zwei Nebenräumen der Bühne zumindest angeboten. Eine Eskalation jedenfalls wird vorerst nicht gesucht.
Aber wie verhält sich der Stadtstaat mit den illegalen Eindringlingen? Antwort: Die rot-rot-grüne Regierung fährt einen Kuschelkurs. Aufseiten von Lederer gibt es offensichtlich gewisse Sympathien für die Besetzer, die eine Mischung aus Gentrifizierungsängsten und Kapitalismuskritik als ihr Anliegen vorbringen. Also überlegte der
bereits öffentlich: „Man stelle sich vor, die Berliner Staatsoper würde besetzt.“Seine These: Dann würde die Polizei wohl rasch zur Räumung anrücken.
Nach Einschätzung mehrerer Kritiker macht der Senat im Falle der Volksbühne keine gute Figur. Hinter den Kulissen der seit knapp zehn Monaten regierenden DreierKoalition von SPD, Linke und Grünen, die ohnehin bei etlichen Themen nur schwer zusammenfindet und bereits viel Sympathie verspielt hat, dürfte es grummeln. Etliche bei SPD und Grünen halten es für falsch, dass sich der Senat von einigen Hausbesetzern quasi erpressen und in dieser Art vorführen lässt. Offiziell heißt es aus dem Senat, Gespräche und ein deeskalierendes Vorgehen seien das Mittel der Wahl.
Doch wie lange Rathaus-Chef Michael Müller (SPD) still hält, ist offen. Er steht als Regierungs- wie auch als Berliner SPD-Chef unter Druck, fuhr doch seine Partei bei der Bundestagswahl gerade ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein. Und Die Linke mit ihrem Senator Lederer könnte dabei sein, sich in eine Sackgasse zu manövrieren. Je länger die Besetzung dauert, desto mehr dürfte das die Koalition belasten.
Dercon und seinem Team läuft derweil die Zeit davon. Dringend benötigte Proben für die Eröffnung der ersten Spielzeit im Stammhaus der Volksbühne müssen derzeit ausfallen. Ulrich Khuon, Präsident des Deutschen Bühnenvereins, meint, die Besetzer müssten dringend von ihrer „Position der Arroganz, der Überheblichkeit, der Selbstgewissheit“runterkommen. Die ungebetenen Gäste machen aus der Volksbühne zur Zeit genau das, was den Plänen Dercons von seinen Gegnern unterstellt worden war: Eine „Eventbude“der Beliebigkeit, einen Jahrmarkt für „Wir sind dagegen“-Propagandisten. Von Kinderschminken über improvisierte Performances bis zur „Einführung in die Marx’sche Kapitalismuskritik“reicht das tägliche Protest-Programm. Wird ein anderer Sprecher der Aktivisten mit der Möglichkeit polizeilicher Räumung konfrontiert, erklärt er, dass man sich nicht dagegen wehren werde. Aber man werde auch immer wiederkommen.