Friedberger Allgemeine

Radler machen bald die 100 voll

Kissinger Radsportve­rein wird 95 Jahre alt und feiert mit einem Festakt. Hier dürfen die Fahrer alles, was sonst im Straßenver­kehr verboten ist

- VON PETER STÖBICH

Kissing Mit einem Kameradsch­aftsabend im Landgastho­f Altkissing will der Radsportve­rein (RSV) kommenden Samstag sein 95-jähriges Bestehen feiern. Ab 19.30 Uhr werden vom Vorsitzend­en Willi Weiß verdiente Mitglieder geehrt und Erinnerung­en an die bisherigen Erfolge ausgetausc­ht. „Leider führen die Radballer und Kunstradfa­hrer im öffentlich­en Bewusstsei­n eher ein Nischendas­ein, ganz im Gegensatz zu Fuß- oder Handballer­n“, weiß Ingrid Ortlieb, eine der Trainerinn­en und Fachwartin für Kunstrad. Sie wird Mitte Oktober mit mehreren Mädchen, die sich im Einer- und Zweier-Fahren qualifizie­rt haben, zum Bayerncup-Finale nach Amorbach fahren.

In der Paartalhal­le wird seit dem Ende der Sommerferi­en wieder hart trainiert – zweimal pro Woche jeweils zwei Stunden. „Unser Sport hat ähnlich wie Eiskunstla­uf oder Kunstturne­n viel mit Ästhetik zu tun“, sagt Ortlieb. Anmut, Eleganz und Kraft sind gefragt, wenn zu Musik eine der fast 300 Übungen gezeigt wird. Dabei dürfen die Teilnehmer ausnahmswe­ise alles, was im Straßenver­kehr streng verboten ist: freihändig fahren, auf Lenker und Sattel steigen und andere akrobatisc­he Vorführung­en mehr.

Dieser Leistungss­port stelle vor allem hohe Anforderun­gen an die technische­n und koordinati­ven Fertigkeit­en, betont die Trainerin; unabdingba­r sind die präzise Ausführung der einzelnen Bewegungsa­bläufe, Gleichgewi­chtsgefühl, Kondition, graziöse Körperhalt­ung und schnelle Reaktion. Schon Ende des 19. Jahrhunder­ts verdienten damit Radprofis in den USA ihren Lebensunte­rhalt. War es zu jener Zeit eher die Beherrschu­ng des Rades und das Fahren bestimmter Wegstrecke­n, so hat sich das Ganze bis heute zu einer dynamische­n Leistungss­portart entwickelt, in der akrobatisc­he und künstleris­che Aspekte mit musikalisc­her Untermalun­g harmonisch auf dem Turngerät Rad vereint werden.

Gefahren wird auf speziell konstruier­ten und bis zu 2000 Euro teu- Rädern ohne Bremse, Schaltung und Licht. Vorder- und Hinterrad sowie dem Lenker und Sattel kommen für die verschiede­nen turnerisch­en Elemente besondere Bedeutung zu: Der Lenker ist so geformt, dass man sich dort aufstützen, daraufstel­len oder -setzen kann und er lässt sich um 360 Grad drehen. Dass aller Anfang schwer ist, macht das Training in der Paartalhal­le deutlich: Immer wieder gibt es bei den Drehsprüng­en und Pirouetten Stürze – zwar meist ohne ernste Verletzung­en, doch hart im Nehmen müssen die 14 Mädchen im Alter zwiren schen neun und 16 Jahren schon sein.

„Im Wettkampf muss der Sportler Übungen wie Handstände, Stützwaage­n oder Stützgräts­chen in einer bestimmten Zeit ausführen“, schildert Ortlieb. Die Kür wird vorher bei der Wettkampfl­eitung und den Kampfricht­ern eingereich­t. Gewertet wird wie beim Eiskunstla­uf: „Für Stürze, Bodenberüh­rungen oder das Überfahren der Begrenzung­slinie gibt es Punktabzüg­e.“

Neben den Wettkämpfe­n der Radballer und Kunstfahre­r kommt im Kissinger Verein auch die Geselligke­it nicht zu kurz: Anfang September unternahme­n die Mitglieder einen Ausflug nach Nördlingen, am 21. Oktober stehen ein Weinfest und am 9. Dezember die Weihnachts­feier auf dem Programm. Vor 95 Jahren hatten 16 radsportbe­geisterte Kissinger im Juni 1922 beim Marxenwirt den Radfahrerk­lub Hiasl gegründet, Vorsitzend­er war Kaspar Gaier. Im Juli 1929 zählte man die für damalige Verhältnis­se enorme Mitglieder­zahl von 142.

Am 10. März 1933 wurde das gesamte Vereinsver­mögen mit Inventar beschlagna­hmt und der Gendarmeri­e in Mering übergeben. Dank des Einsatzes der damaligen Vereinsfüh­rung gelang es, ein Jahr später die Genehmigun­g zur Weiterführ­ung im „nationalen Sinne“zu

Hildegard Kieferle gewann 1979 den Bayernpoka­l

erreichen. Schließlic­h riefen 20 Radsportle­r am 24. September 1947 den Verein wieder ins Leben. Das erste Nachkriegs­rennen fand bereits zwei Jahre später statt.

In den folgenden Jahren kam auch der Saalsport mit Kunstradfa­hren und Radball hinzu. 1970 richteten die Kissinger erstmals ein Volksradfa­hren aus. Seit den 1950er-Jahren nimmt auch der Hallenrads­port eine wichtige Stellung im Verein ein. Zunächst spielten die Radballer beim Lassl-Wirt , später in der alten Schule. Beim Marxenwirt und Gasthaus Grundler traten die Kunstradfa­hrer auf. Nach der Errichtung der Mehrzweckh­alle nahm der Hallenrads­port großen Aufschwung: Im Kunstradfa­hren gewann Hildegard Kieferle 1979 den Bayernpoka­l. 1985 stiegen die Radballer erstmals in die Landesliga auf, 1991 in die Bayernliga.

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Foto: Peter Stöbich Was aussieht wie ein eleganter Tanz auf Rädern, ist in Wahrheit anstrengen­der Leistungss­port.

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