Radler machen bald die 100 voll
Kissinger Radsportverein wird 95 Jahre alt und feiert mit einem Festakt. Hier dürfen die Fahrer alles, was sonst im Straßenverkehr verboten ist
Kissing Mit einem Kameradschaftsabend im Landgasthof Altkissing will der Radsportverein (RSV) kommenden Samstag sein 95-jähriges Bestehen feiern. Ab 19.30 Uhr werden vom Vorsitzenden Willi Weiß verdiente Mitglieder geehrt und Erinnerungen an die bisherigen Erfolge ausgetauscht. „Leider führen die Radballer und Kunstradfahrer im öffentlichen Bewusstsein eher ein Nischendasein, ganz im Gegensatz zu Fuß- oder Handballern“, weiß Ingrid Ortlieb, eine der Trainerinnen und Fachwartin für Kunstrad. Sie wird Mitte Oktober mit mehreren Mädchen, die sich im Einer- und Zweier-Fahren qualifiziert haben, zum Bayerncup-Finale nach Amorbach fahren.
In der Paartalhalle wird seit dem Ende der Sommerferien wieder hart trainiert – zweimal pro Woche jeweils zwei Stunden. „Unser Sport hat ähnlich wie Eiskunstlauf oder Kunstturnen viel mit Ästhetik zu tun“, sagt Ortlieb. Anmut, Eleganz und Kraft sind gefragt, wenn zu Musik eine der fast 300 Übungen gezeigt wird. Dabei dürfen die Teilnehmer ausnahmsweise alles, was im Straßenverkehr streng verboten ist: freihändig fahren, auf Lenker und Sattel steigen und andere akrobatische Vorführungen mehr.
Dieser Leistungssport stelle vor allem hohe Anforderungen an die technischen und koordinativen Fertigkeiten, betont die Trainerin; unabdingbar sind die präzise Ausführung der einzelnen Bewegungsabläufe, Gleichgewichtsgefühl, Kondition, graziöse Körperhaltung und schnelle Reaktion. Schon Ende des 19. Jahrhunderts verdienten damit Radprofis in den USA ihren Lebensunterhalt. War es zu jener Zeit eher die Beherrschung des Rades und das Fahren bestimmter Wegstrecken, so hat sich das Ganze bis heute zu einer dynamischen Leistungssportart entwickelt, in der akrobatische und künstlerische Aspekte mit musikalischer Untermalung harmonisch auf dem Turngerät Rad vereint werden.
Gefahren wird auf speziell konstruierten und bis zu 2000 Euro teu- Rädern ohne Bremse, Schaltung und Licht. Vorder- und Hinterrad sowie dem Lenker und Sattel kommen für die verschiedenen turnerischen Elemente besondere Bedeutung zu: Der Lenker ist so geformt, dass man sich dort aufstützen, daraufstellen oder -setzen kann und er lässt sich um 360 Grad drehen. Dass aller Anfang schwer ist, macht das Training in der Paartalhalle deutlich: Immer wieder gibt es bei den Drehsprüngen und Pirouetten Stürze – zwar meist ohne ernste Verletzungen, doch hart im Nehmen müssen die 14 Mädchen im Alter zwiren schen neun und 16 Jahren schon sein.
„Im Wettkampf muss der Sportler Übungen wie Handstände, Stützwaagen oder Stützgrätschen in einer bestimmten Zeit ausführen“, schildert Ortlieb. Die Kür wird vorher bei der Wettkampfleitung und den Kampfrichtern eingereicht. Gewertet wird wie beim Eiskunstlauf: „Für Stürze, Bodenberührungen oder das Überfahren der Begrenzungslinie gibt es Punktabzüge.“
Neben den Wettkämpfen der Radballer und Kunstfahrer kommt im Kissinger Verein auch die Geselligkeit nicht zu kurz: Anfang September unternahmen die Mitglieder einen Ausflug nach Nördlingen, am 21. Oktober stehen ein Weinfest und am 9. Dezember die Weihnachtsfeier auf dem Programm. Vor 95 Jahren hatten 16 radsportbegeisterte Kissinger im Juni 1922 beim Marxenwirt den Radfahrerklub Hiasl gegründet, Vorsitzender war Kaspar Gaier. Im Juli 1929 zählte man die für damalige Verhältnisse enorme Mitgliederzahl von 142.
Am 10. März 1933 wurde das gesamte Vereinsvermögen mit Inventar beschlagnahmt und der Gendarmerie in Mering übergeben. Dank des Einsatzes der damaligen Vereinsführung gelang es, ein Jahr später die Genehmigung zur Weiterführung im „nationalen Sinne“zu
Hildegard Kieferle gewann 1979 den Bayernpokal
erreichen. Schließlich riefen 20 Radsportler am 24. September 1947 den Verein wieder ins Leben. Das erste Nachkriegsrennen fand bereits zwei Jahre später statt.
In den folgenden Jahren kam auch der Saalsport mit Kunstradfahren und Radball hinzu. 1970 richteten die Kissinger erstmals ein Volksradfahren aus. Seit den 1950er-Jahren nimmt auch der Hallenradsport eine wichtige Stellung im Verein ein. Zunächst spielten die Radballer beim Lassl-Wirt , später in der alten Schule. Beim Marxenwirt und Gasthaus Grundler traten die Kunstradfahrer auf. Nach der Errichtung der Mehrzweckhalle nahm der Hallenradsport großen Aufschwung: Im Kunstradfahren gewann Hildegard Kieferle 1979 den Bayernpokal. 1985 stiegen die Radballer erstmals in die Landesliga auf, 1991 in die Bayernliga.