Friedberger Allgemeine

Die Bahn stopft ihr größtes Loch

Mobilität Ab dem heutigen Montag sollen wieder Züge auf der Rheintalba­hn in Baden-Württember­g rollen. Sieben Wochen ging nach einem Unfall nichts mehr. Die Schäden sind immens – auch für das Ansehen des Konzerns

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Rastatt Lärm sind die Anwohner gewohnt. Nur wenige Meter von ihren Häusern entfernt rattern hier in Rastatt-Niederbühl Tag und Nacht die Züge vorbei. Normalerwe­ise. In den letzten sieben Wochen nicht. Eine Havarie an der benachbart­en Tunnelbaus­telle hat zum Stillstand an einer der wichtigste­n Nord-SüdBahntra­ssen Europas geführt. Ruhig ist es dennoch nicht. Um die Strecke wieder flottzukri­egen, ließ die Bahn rund um die Uhr arbeiten. Ab dem heutigen Montag soll die Rheintalba­hn zwischen Rastatt und Baden-Baden wieder in Betrieb gehen. Die Erleichter­ung ist groß – der Schaden auch.

Seit dem 12. August ist die hoch frequentie­rte Route lahmgelegt. Beim Bau eines Tunnels für das europäisch­e Hochgeschw­indigkeits­netz hatte sich ein Betonsegme­nt in der Tunnelröhr­e verschoben, die knapp fünf Meter unter den Gleisen der Rheintalba­hn durchführt. Wasser und Erdreich drangen ein, die Gleise senkten sich ab.

Und das auf einer Strecke, die Tag für Tag sonst etwa 120 Personenzü­ge passieren sowie bis zu 200 Güterzüge. Bahnen mussten umgeleitet werden, etliche fielen aus. Der Güterverke­hr staute sich zwischen Rotterdam und Genua. Reisende und Pendler – täglich an die 30 000 – mussten in Busse umsteigen. Sie waren damit etwa eine Stunde länger unterwegs.

„Besonders negativ war und ist die Tatsache, dass es keinen ,Plan B‘ für den Fall einer baubedingt­en gab“, sagt Peter Westenberg­er, Geschäftsf­ührer des Netzwerks Europäisch­er Eisenbahne­n, kurz NEE, das vor allem die Güterbahn-Konkurrent­en der Deutschen Bahn vertritt. Zwar lief der Güterverke­hr nach einem totalen Stopp langsam wieder über Umleitunge­n wie der Gäubahn Stuttgart–Singen, den Brenner, Ulm– Friedrichs­hafen oder über Frankreich an. Aber nicht alle Ausweichro­uten waren geeignet.

Es gab Engpässe rund um Singen und Schaffhaus­en, vor allem im Ausland fehlten Lokomotive­n und Personal mit Strecken- und Sprachkenn­tnissen, berichtet der Verbandsge­schäftsfüh­rer. „Insgesamt lief nichts wirklich reibungslo­s.“Nur maximal die Hälfte der üblichen Mengen sei transporti­ert worden. Der Logistik-Verband BGL klagte über chaotische Zustände an Containerb­ahnhöfen.

Allein die Eisenbahnv­erkehrsunt­ernehmen rechnen mit Schäden „um die 100 Millionen Euro“. Inklusive der Schäden an der Infrastruk­tur und volkswirts­chaftliche­n Folgen schließt Westenberg­er „Gesamtkost­en bis in Milliarden­höhe“nicht aus. Mehr als zwei Dutzend deutsche und europäisch­e Organisati­onen haben bei Bundesverk­ehrsminist­er Alexander Dobrindt (CSU) mehrfach Nothilfe angemahnt. Sie bekamen keine Antwort. „Als wäre das Ministeriu­m vom Erdboden verschluck­t worden“, sagt Westenberg­er. Für die Grünen-Bundestags­abgeordnet­en Kerstin Andreae und Matthias Gastel zeigt das Debakel: „Die Bundesregi­erung versagt beim Thema Bahn.“Es sei fatal, wenn es an Kapazitäte­n fehle.

Einen vernachläs­sigten Ausbau der Schienenin­frastruktu­r moniert auch das grün geführte Verkehrsmi­nisterium von Baden-Württember­g: „Der Bund muss aus der RastattHav­arie lernen“, sagt eine Sprecherin. Die Bundesregi­erung müsse sich mit den Folgen auseinande­rsetzen und ein zusätzlich­es Infrastruk­turprogram­m auflegen.

Die Bahn hat indes alle Ressourcen mobilisier­t, um die Stelle wieder befahrbar zu machen, Umleitunge­n und Busse zu organisier­en sowie Kunden und Anwohner zu beschwicht­igen. Wie hoch die Kosten durch die Tunnel-Havarie sind, kann Bahnvorsta­nd Ronald Pofalla nicht sagen. Auch sei noch nicht entschiede­n, wie es mit dem TunStrecke­nsperrung nelbau in der beschädigt­en Röhre weitergeht. Denn zur Stabilisie­rung wurde diese auf 150 Metern Länge mit 10500 Kubikmeter­n Beton gefüllt. Die Tunnelbohr­maschine wurde einbetonie­rt. Im Verkehrsau­sschuss des Stuttgarte­r Landtags deutete ein Bahnmanage­r an, dass das Projekt nun zwei Jahre später als geplant – erst 2024 – fertig werden könnte.

Landesverk­ehrsminist­er Winfried Hermann (Grüne) drückt dafür an anderer Stelle aufs Tempo. Aus seiner Sicht wurde der viergleisi­ge Ausbau der Rheintalba­hn für die zentrale europäisch­e Schienenve­rkehrsachs­e zwischen Rotterdam und Genua ohnehin schon viel zu langsam vorangetri­eben. „Das Gesamtproj­ekt sollte auf jeden Fall bis 2035 abgeschlos­sen sein.“

Um langwierig­e Gerichtspr­ozesse zur Klärung der Havarie-Ursache zu vermeiden, will sich die Bahn mit der Baufirma bei einer Schlichtun­g verständig­en. Das stößt den Eisenbahnv­erkehrsunt­ernehmen auf, die auf Schadeners­atz pochen. Sie fürchten um die Transparen­z des Verfahrens und eine verzögerte Feststellu­ng der Schäden.

„Ein Imageschad­en der Bahn lässt sich sicher nicht verneinen“, so eine Stuttgarte­r Ministeriu­mssprecher­in. Bund und Bahn müssten alles tun, „damit sich ein solches Debakel nicht wiederholt“. Das sieht der Fahrgastve­rband Pro Bahn ähnlich. Mit dem Bus-Ersatzverk­ehr immerhin sei für Pendler und Reisende am Ende alles „in halbwegs geordneten Bahnen“gelaufen, sagt Sprecher Karl-Peter Naumann.

Derweil hoffen Anwohner der Havarie-Stelle auf Entschädig­ung. Ein Rentner spricht von Rissen in der Hauswand, ein Garten ist durch die Baustelle zur Schlamm- und Schotterwü­ste geworden. Nächtliche­r Baustellen­lärm und Erschütter­ungen haben viele um den Schlaf gebracht. „Manchmal hat das Bett gewackelt“, berichtet eine 25-jährige Erzieherin aus der Ringstraße. Unwohl fühlte sie sich auch, wenn unangemeld­et Bauarbeite­r durch den Garten spazierten. Die Frau und ihre Familie sind froh, wenn der ganze Spuk jetzt endlich vorbei ist. Dass dann wieder Bahnen lärmen, stört sie nicht: „Das sind wir hier gewöhnt.“Susanne Kupke, dpa

 ?? Foto: Uli Deck, dpa ?? Rund um die Uhr schufteten die Bauarbeite­r, um die Strecke wieder befahrbar zu machen. Beim Bau eines Tunnels hatte sich ein Betonsegme­nt verschoben. Wasser und Erdreich drangen ein, die Gleise senkten sich ab.
Foto: Uli Deck, dpa Rund um die Uhr schufteten die Bauarbeite­r, um die Strecke wieder befahrbar zu machen. Beim Bau eines Tunnels hatte sich ein Betonsegme­nt verschoben. Wasser und Erdreich drangen ein, die Gleise senkten sich ab.

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