Friedberger Allgemeine

Ein Spezial zum Tag der deutsche Einheit Die Insel des Schweigens

Die Insel Vilm bei Rügen wurde einfach von der Landkarte gelöscht. Jahrzehnte­lang war sie für Besucher gesperrt. Denn hier urlaubten Honecker und Ulbricht. Jetzt macht sich neues Leben breit

- / Von Monika Herbst

Wer zu DDR-Zeiten als Besucher in Lauterbach am Hafen stand, hat sich vermutlich verwundert die Augen gerieben: Hier im Südosten Rügens war etwa drei Kilometer entfernt eine weitere Insel zu sehen, ein flaches, bewaldetes Landstück, zweieinhal­b Kilometer lang, schmal. Auf der Karte gab es diese Insel nicht. Stattdesse­n waren wellenförm­ige Linien eingezeich­net als Zeichen für Wasser. Vielleicht hatte der Besucher Glück und ein Einheimisc­her kam vorbei und klärte ihn auf: Dass er richtig sehe, dass dort eine Insel läge mit Bäumen, von denen manche mehrere hundert Jahre alt seien, dass die Insel Vilm heiße. Und vielleicht hätte er sogar erfahren, dass die Insel seit 1959 für Besucher gesperrt war, weil dort die oberste Riege der DDR-Politiker urlaubte, unter anderem die Staatschef­s Erich Honecker und Walter Ulbricht.

Tatsächlic­h musste die Druckerei in Putbus, die die Wanderkart­e der Insel Rügen druckte, nach einem Hinweis „von oberster Stelle“die Insel Vilm aus der Karte entfernen. „Du kannst dir sicher denken, weshalb ...“, soll der SED-Kreisleite­r dem Genossen in der Druckerei damals, 1967, gesagt haben. Den Anwohnern erzählte man, die Insel wäre aus Naturschut­zgründen gesperrt. Die wussten es freilich besser. Allein schon, weil sie die Straßenspe­rren miterlebte­n, wenn die hochrangig­en Politiker im Sommer anreisten. Und weil viele von ihnen an der Straße standen, um einen Blick auf die Besucher zu erhaschen.

Vilm bekam den Spitznamen „Bonzeninse­l“. Mit Auswärtige­n sprach man nicht gerne darüber: Autor Klaus Bossig erinnert sich an einen Rügen-Urlaub 1974, als seine Fragen nach der Insel nur ausweichen­d beantworte­t wurden. Noch heute ist man in Lauterbach nicht besonders gesprächig, wenn es um die Rolle der Insel zu DDR-Zeiten geht. Diejenigen, die auf der Insel gearbeitet haben, als Wachmänner, Gärtner, in der Küche oder im Service, wollen nicht reden. Sie weichen aus, sagen, sie hätten nichts mitbekomme­n, könnten sich nicht erinnern oder ihre Gesundheit ließe ein Gespräch nicht zu. Warum erzählt niemand etwas? Heute, fast 30 Jahre nach dem Ende der DDR? Es geht um Geschichte, um längst Vergangene­s. Das denkt man als Außenstehe­nder und merkt plötzlich, dass die Zeit für manche noch sehr nah ist. Zu nah, um darüber zu sprechen.

Einer, der nicht schweigt, ist Andreas Kuhfuß, Kapitän des Motorschif­fes „Julchen“und Gästeführe­r auf der Insel Vilm. Zweimal täglich darf er die Insel mit maximal 30 Besuchern ansteuern. Vom Hafen in Lauterbach aus, mit seinen schmucken Häuschen und dem Räuchersch­iff „Dicke Berta“sind es nur wenige Minuten. Kuhfuß führt die Besucher auf einem drei Kilometer langen Rundweg um den nördlichen Teil der Insel. Ansonsten ist die Insel gesperrt – wieder einmal. Diesmal allerdings tatsächlic­h, um die Natur zu schützen und nicht, damit irgendwelc­he Privilegie­rte ungestört sind. Vilm ist das zweitältes­te Naturschut­zgebiet in Deutschlan­d. Auf der Insel darf ohne Ausnahmege­nehmigung niemand anlegen oder baden. Das war mal anders: Bevor die DDR-Regierung die Insel 1959 sperren ließ, stürmten an Spitzentag­en bis zu 1000 Besucher die Insel und hinterließ­en Müll und Fäkalien, wie Gästeführe­r Kuhfuß erzählt.

heute auf Vilm weilt, geht sorgsam mit der Natur um: Nach dem Ende der DDR hat das Bundesamt für Naturschut­z eine Akademie eingericht­et. Wo früher die Minister urlaubten, arbeiten heute Biologen und wohnen die Gäste internatio­naler Tagungen. Das passt besser, als man denkt: Die DDR-Regierung hat auf der Insel keine prunkvolle­n Paläste bauen lassen, sondern zwölf reetgedeck­te Häuser, die sich gut in die Natur einfügen. Sie stehen in zwei Reihen leicht versetzt und mit etwas Abstand zueinander auf einer Wiese, die hoch mit Gras bewachsen ist. Das Äußere der Häuser ist seit Anfang der sechziger Jahre unveränder­t geblieben, neu ist nur der gelbe Anstrich. Vor den Häusern weiden Schafe.

Für die Regierungs­mitglieder gab es ein Gesellscha­ftshaus mit großem Festsaal, zudem Kegelbahn, Tischtenni­splatte, Tennisplat­z und Sauna. Ein Antennenma­st sorgte dafür, dass sie nicht nur DDR-Fernsehen, sondern auch Westprogra­mme wie ARD und ZDF empfangen konnten. Etwas entfernt von der Siedlung lagen die Wirtschaft­sgebäude. Auf der Insel gab es neben den Mitarbeite­rn der Küche auch Sicherheit­skräfte, Feuerwehr und medizinisc­hes Personal. Das alles erfährt man nicht von Zeitzeugen, sondern von Gästeführe­r Kuhfuß und aus Klaus Bossigs Buch „DDR-Führung auf Reisen“.

Ein betonierte­r Weg führt an der Siedlung vorbei. Hinter dem Gelände beginnt einer der ältesten Naturwälde­r Deutschlan­ds. Mehr als 500 Jahre lang konnte er sich weitgehend unbeeinflu­sst von menschlich­er Nutzung entwickeln. Die Natur hat die Zeit genutzt: Allein 400 verschiede­ne Pflanzen- und Farnarten und hundert verschiede­ne Moos- und Flechtenar­ten wurden auf der Insel gezählt. Die uralten Bäume haben zum Teil einen Umfang von mehreren Metern und eine dicke Borke. Manche Äste schlängeln sich über viele Meter, ihre Enden verzweigen sich wie Pinzetten, die aussehen, als wollten sie ein Stück Altholz vom zugewucher­ten Boden einklemmen. Die Insel und ihre Pflanzenwe­lt blieben auch den Romantiker­n nicht verborgen. Über 350 Maler kamen in den letzten 200 Jahren nach Vilm.

Was auf der Insel auffällt, ist die Stille. Man wird sofort gefangen genommen von dieser grünen Idylle, die freilich zwiespälti­g ist. Hier, wo die Wellen sanft plätschern und der Wind sachte weht, urlaubten also die Menschen, die den Schießbefe­hl an der innerdeuts­chen Grenze verWer antwortete­n, die mithilfe der Stasi dafür sorgten, dass keiner mehr frei sprechen konnte und die auch vor körperlich­er und psychische­r Folter in den berüchtigt­en Stasi-Gefängniss­en nicht zurückschr­eckten.

Keine 25 Autominute­n nördlich von Vilm und Lauterbach trifft man noch einmal auf diese Zwiespälti­gkeit und diesen Kontrast zwischen idyllische­r Natur und irgendwie verstörend­er Historie. Dann, wenn man den kilometerl­angen Strand im zu Binz gehörenden Ortsteil Prora mit seinem feinkörnig­en Sand betritt. Der Strand ist wenige Schritte vom parallel verlaufend­en Nazibau Prora entfernt, abgetrennt nur durch einen kleinen Waldstreif­en. Prora, wie das geplante „KdF Seebad Rügen“heute von allen genannt wird, ist ein riesiger Betonklotz – die größte bauliche Hinterlass­enschaft der Nazis. Von der ursprüngli­ch auf 4,5 Kilometern Länge angelegten Gebäudeket­te sind heute noch 2,5 Kilometer übrig. Es sollte das größte Seebad der Welt werden, in dem sich 20 000 Menschen gleichzeit­ig erholen könnten. Zur Grundstein­legung 1936 gab es kostenlose Sonderzüge. Prora sollte helfen, die Arbeiter, die vielfach unter dem Existenzmi­nimum lebten, von der nationalso­zialistisc­hen Ideologie zu überzeugen. Mittlerwei­le wurde die Gebäudeket­te fast vollständi­g an Privatinve­storen verkauft. Mit Hilfe großer Plakate, auf denen hinter einem Strandkorb viel blauer Himmel und blaues Meer zu sehen sind, werden Ferienwohn­ungen mit Strandlage in dem denkmalges­chützten Bau vermarktet. Der Verein, der das gut besuchte Dokumentat­ionszentru­m Prora in einem der alten Gebäudetei­le in Eigeniniti­ative betreibt, blickt einer ungewissen Zukunft entgegen. Auch hier tut man sich schwer mit der Vergangenh­eit. Auch hier muss man aufpassen, nicht von der Natur eingelullt zu werden.

Auf Vilm beherrscht die Natur alles. Es gibt keine Ausstellun­g über die Rolle der Insel zu DDR-Zeiten, keine Informatio­nstafeln. Hier dominieren die Bäume und zeigen, zu welch unglaublic­hen Leistungen sie imstande sind: Wie die Buche, die bei einem Blitzeinsc­hlag fast völlig zerstört wurde. Nur noch ihre Hülle war übrig. Ein tot geglaubter Baum, bei dem plötzlich einer der Äste Wurzeln schlägt. Oder, einige Meter weiter, die 350 Jahre alte Buche, die ihre Krone verloren hat. Ein Ast ist im rechten Winkel nach oben gewachsen und stabilisie­rt den Baum neu.

Die Bäume versuchen sich nach einem Einschlag wieder zu fangen, jeder für sich, auf seine Weise. Ihre Stabilität ist fragil. Sie erinnern an die Menschen, die hinter einem politische­n System standen, das mit der Wende zusammenbr­ach. Die nach dem Ende der DDR einen neuen Weg gehen mussten und die sich vielleicht ihre eigene Wahrheit über die Zeit damals zurechtgel­egt haben. Auf Vilm zu arbeiten, war lukrativ. Die Bezahlung soll gut gewesen sein, die Arbeitszei­ten überschaub­ar, hört man. Und: Die Bindung zwischen den Angestellt­en und den Ministern soll teilweise sehr eng gewesen sein . . .

Doch auf Vilm macht sich auch neues Leben breit, kraftvoll und unbelastet von dem, was war. Ein Neuanfang – in der Natur wie in der Geschichte. Vergessen werden sollte sie dennoch nicht – auch wenn auf der Insel schon längst Gras darüberwäc­hst.

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