Kann ein Mann sechs Frauen lieben?
Max Ernst konnte. Und wer in Markus Orths Roman über das Leben des Malers versinkt, wird womöglich nicht nur verstehen können, wie bedeutend ihm jede einzelne von ihnen als Muse und/oder Partnerin gewesen ist – womöglich entflammt der Leser auch selbst in Leidenschaft für Verhängnis und Freiheit, die in diesen Begegnungen steckten.
Es ist ja ohnehin eine unwiderstehlich wilde Zeit gewesen – die Neuerfindung der Kunst in Dadaismus und Surrealismus, der tödliche Wahn der Weltkriege. Und zunächst scheint es, als würde Max Ernst sie an der Seite seiner Lou und mit ihrem Sohn relativ geordnet durchleben. Aber spätestens mit dem Umzug nach Paris und dem Kennenlernen des Schriftstellers Paul Éluard und vor allem dessen Frau Gala und dann auch mit Flucht vor den Nazis in die USA beginnt ein Ringen zwischen Not und Genie, das ihn mit den großen Namen jener Zeit in Verbindung bringt: André Breton und Peggy Guggenheim, Picasso und Man Ray, Brancusi und Marcel Duchamp… Und Ernst heiratete zwischenzeitlich die ungestüme Marie-Berthe Aurenche, liebte Leonora Carrington, bis er schließlich an der Seite von Dorothea Tanning zur Ruhe findet und nach Paris zurückkehrt. Toller Stoff also für einen versierten Autor wie Markus Orths. Denn der versteht sich sowohl auf die Untiefen der Leidenschaft wie auf den ständigen Grenzgang des Künstlerdaseins – und inszeniert das selbst eher packend als kunstvoll.
Der Krieg ist aus. Deutschland liegt in Trümmern. Dass Karlchen lebt, hat einen einfachen Grund: Sie haben ihn nicht entdeckt. Sonst hätten die Nazis ihn getötet wie die anderen. Unwertes Leben, eine „Ballastexistenz“, einer, der aus dem Rassenwahn-Schema fällt. Aber Karlchens Eltern haben den geistig Behinderten zwölf Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Nachbarn haben geschwiegen. Jetzt springt Karlchen mit den anderen Kindern in Hamburg auf der Straße und freut sich über einen Kaugummi, den ein US-Soldat ihm zusteckt. Uwe Timm beginnt seinen Roman „Ikarien“mit dieser Szene – eine persönliche Kindheitserinnerung des Autors. Ein Gegenbild, ein Licht in den dunklen Ruinen des Todes.
Karlchen hat überlebt. Glück, Zufall, Ausnahme. Doch Timms Roman, der 1945 in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland angesiedelt ist, versucht zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass Tausende und Abertausende in Kliniken und Anstalten ermordet wurden, weil sie von der arischen „Norm“abwichen.
Wenn man so will, erzählt Uwe Timm eine Familiengeschichte. Denn der Rassentheoretiker Alfred Ploetz, der zum Heer der Wissenschaftler gehörte, die aus dem Labor heraus und mit ihren Theorien das Euthanasie-Vernichtungswerk der Nazis unterfütterten, war der Großvater von Timms Ehefrau. Timm, Jahrgang 1940, rekapituliert den Weg, den dieser Alfred Ploetz zurückgelegt hat – vom Pazifisten und Humanisten, vom Idealisten und Kommunisten zum verbohrten Rasse-Theoretiker, vom Weltverbesserer zum gnadenlosen Auslese-Dogmatiker. Im Roman, der den Spagat zwischen Erzählung und Faktenreferat versucht und dabei vielleicht ein wenig zu oft ins Referieren kippt, baut Timm auf zwei Säulen. Da ist der junge deutschsprachige US-Soldat Michael Hansen, der den Auftrag hat, die Experimente und Arbeiten des (inzwischen gestorbenen) Rassehygienikers Ploetz zu erforschen. Sein wichtigster Zeuge dabei ist der alte Antiquar Wagner, ein ehemaliger Weggefährte von Ploetz und erklärter Nazi-Gegner. In die langen Gespräche zwischen Wagner und Hansen packt Timm alles hinein, was diese Spurensuche ausleuchtet. Er geht zurück zum Ideal der Kommune, wie es Etienne Cabet in seinem 1840 erschienenen Roman „Die Reise nach Ikarien“beschreibt, wirft einen Blick auf die Räterepublik, versucht, die Wurzeln der Nazi-Ideologie freizulegen, verhandelt Schuld und Verblendung, zeigt auf, dass die eugenetische Bewegung viele Länder erfasst hatte, nicht nur Deutschland. „Aber das Denken war damals völlig verstopft von der Idee der Größe und Menge des Volks, auch im Hinblick auf den Erzfeind Frankreich“, sagt Wagner, der Menschenfreund, einmal. Das ist stark.
Doch am stärksten ist Uwe Timm dort, wo er als Romancier glänzt und die Aufarbeitung, die Akte des Antialkoholikers Ploetz hinter das Erzählen zurücktritt („Ihm, der für alles Verstand und Willen verantwortlich machte und stets das Prinzip von Ursache und Wirkung walten sah, fehlte die Vorstellung, es
„Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus.“