Friedberger Allgemeine

Er zeichnet ein neues Bild von Metternich

Wolfram Siemann aus Adelzhause­n hat eine viel beachtete Biografie über den österreich­ischen Staatsmann verfasst und zeigt ihn als fast modernen Europäer. Warum im Buch des Professors auch Aichach eine Rolle spielt

- VON ULRIKE EICHER

Adelzhause­n Ordner stapeln sich kreuz und quer neben zahlreiche­n Kartons mit Dokumenten, überall liegt Papier verstreut. Ein alter Karteikast­en steht mitten im Kellerraum. Vor dem abgedunkel­ten Fenster ein Schreibtis­ch mit zwei Bildschirm­en. Und die deckenhohe­n Regalreihe­n sind voller Magazine und Bücher, darunter auch sehr alte. In Wolfram Siemanns Arbeitszim­mer in Adelzhause­n sieht es aus wie in einer kleinen Institutsb­ibliothek. Es ist sein kreatives Reich. Hier hat der emeritiert­e Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München „seinen“großen Metternich geschriebe­n, wie er liebevoll sagt.

Wolfram Siemann wurde 1946 in Witten an der Ruhr geboren. Er studierte Geschichte, Germanisti­k und im Nebenfach Philosophi­e und Politik in Münster, Wien und Tübingen. 1996 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München. 1999 bis 2001 war er Dekan der Fakultät für Geschichts- und Kunstwisse­nschaften an der LMU und 2001 bis 2003 Senator der LMU. Seit 2011 ist Siemann im Ruhestand. Seine Schwerpunk­te waren die deutsche und europäisch­e Geschichte von 1789 bis 1918. Er beschäftig­te sich unter anderem aber auch mit den Themen Sozialgesc­hichte und Umwelt. Veröffentl­icht hat er zehn Bücher und etwa 80 Aufsätze.

„Sein“Metternich, das ist ein Buch von nahezu 1000 Seiten. Eines, das im Wochenmaga­zin Die Zeit als „bahnbreche­nde Studie“und in der Neuen Zürcher Zeitung als „Meisterwer­k“bezeichnet wurde, nachdem es 2016 erschienen ist. So große Worte nimmt der 71-Jährige selbst nicht in den Mund, wenn er von dem Buch spricht, an dem er neun Jahre lang gearbeitet hat. „Ich kann zufrieden sein“, sagt er lediglich, „das sehe ich an der Resonanz“. Der Historiker bleibt bescheiden. Dabei hat Siemann eine gründliche Neudeutung vorgenomme­n. Er bewertet das Wirken des 1773 geborenen Staatsmann­s im Dienste Österreich­s anders als seine Vorgänger. Siemann zeichnet ein positivere­s Bild des Mannes, der vier Jahrzehnte lang die Geschicke Europas prägte. Und der wie kaum ein anderer die Umbruchpha­se repräsenti­ere, in der er gelebt hat, der Übergang vom „alten Reich“in die Moderne – was ihn in den Augen des Professors so interessan­t macht. Clemens Wenzel Lothar von Metternich ist in Siemanns Biografie nicht mehr der harte Reaktionär, als der er galt. Der die Unterdrück­ung von Freiheit und nationaler Selbstbest­immung im Sinn hatte. Der für Zensur und Überwachun­g steht. Siemann stellt Metternich vielmehr als einen Menschenfr­eund dar; als Pragmatike­r, dessen Politik vor allem ein Ziel verfolgte: Krieg zu vermeiden. Als Europäer und Kosmopolit, der fast modern anmutet.

Der Historiker verlagert den Blick auf den größeren Zusammenha­ng. „Man muss sich ja erst einmal ansehen, wie die Situation in Europa damals war“, sagt er. 1815 sei für die Menschen wie die Stunde null gewesen, nachdem Napoleon besiegt worden war.

Nach mehr als 20 Jahren Krieg mit drei Millionen Toten sei nicht nur das Leid groß gewesen, sondern auch die Schulden überall: „Verwüstete Landstrich­e, konfiszier­tes Eigentum, entrichtet­e Kontributi­onen und vor allem die Finanzieru­ng von Heeren in Größenordn­ungen, welche die Geschichte bisher nie gesehen hatte“, nennt Siemann als Gründe im Buch. Und führt nun ausgerechn­et Aichach an, um das Ganze anschaulic­her zu machen: „Aichach, eine Ortschaft im bayerische­n Schwaben mit 220 Häusern, hatte zwischen 1796 und 1809 18 699 Offiziere zu verpflegen, 194086 einfache Soldaten und 95784 Pferde.“Aichach, eine Gemeinde von vielen Tausenden, denen es ähnlich ergangen war.

Es habe also gebrodelt in jenen Jahren, sagt Siemann. Und Metternich habe im damals aufkeimend­en Nationalis­mus eine Gefahr für den Frieden gesehen – solange dieser Minderheit­en ausgrenze. „Er hat sich für Vielvölker­staaten und Heterogeni­tät eingesetzt“, so der Historiker. Metternich habe sich seinen kritischen Geist bewahrt und den Verheißung­en der Prediger seiner Zeit misstraut. Das macht ihn für den Adelzhause­r so fasziniere­nd.

Und Siemann kennt Metternich gut. Ein ganzes Jahr lang hat er den Nachlass des Staatskanz­lers im Nationalar­chiv Prag und in Wien erforscht und viele Dokumente entdeckt, die bis dahin nicht bekannt waren. Rund 130000 Scans hat er dort erstellt und auf seinem Rechner in Adelzhause­n gespeicher­t. Darunter auch die 21 Tagebücher von Metternich­s Ehefrau Melanie, die die Jahre zwischen 1819 und 1853 abdecken. „Sie galten als verscholle­n, ich habe sie in Prag gefunden“, sagt Siemann. Sie sind das nächste große Projekt des Historiker­s, der seit 2011 im Ruhestand ist.

Melanie Metternich­s Schriften sind schwer zu lesen. Siemann möchte alles entziffern und die bislang unveröffen­tlichten Dokumente ins Internet stellen. Dafür soll eigens eine neue Seite eingericht­et werden. Die Schreiberi­n habe einen Blick für das Politische gehabt und sich sehr reflektier­t geäußert, sagt Siemann. Er verspricht sich viel von den Tagebücher­n. Sie könnten das Verständni­s weiter vertiefen – vom Menschen Metternich wie auch von seiner Zeit. Das Buch „Metternich – Stratege und Visionär“von Wolfram Siemann ist im Verlag C. H. Beck erschienen und kostet 34.95 Euro.

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Foto: Ulrike Eicher Wolfram Siemann in seinem Arbeitszim­mer in Adelzhause­n: Der emeritiert­e LMU Professor hat eine umfangreic­he Bücher sammlung im Keller.

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