Friedberger Allgemeine

Aus Tragödie Lehren ziehen

In Bayern werden bei Unfällen immer mehr Radfahrer verletzt. Vier Wochen ist es her, dass in Kaufbeuren ein 16-jähriger Radler starb. Wie seine Mutter damit umgeht, was sie fordert

- VON ALEXANDER VUCKO

Kaufbeuren Die meisten Albträume enden beim Aufwachen. Es bleiben bruchstück­hafte Erinnerung­en, aber es ist vorbei. Und es gibt Albträume, die enden nie. Sylvia K. sieht von ihrem Wohnzimmer­fenster die Bremslicht­er der Autos, die vor der Kreuzung stehen. Abends, wenn es dunkel ist, reihen sich die roten Punkte aneinander. Es ist die Kreuzung, an der ihr Kind ums Leben gekommen ist.

Montagmorg­en. Lucas radelt zu einem Kaufbeurer Verbrauche­rmarkt, wo er seine Lehre absolviert. Er kommt dort nicht an. Um 8 Uhr an diesem 2. Oktober überrollt ein Lastwagen den 16-Jährigen. Der Mann am Steuer steht mit seinem Sattelschl­epper zunächst an der roten Ampel, biegt dann bei Grün nach rechts ab. Dabei kollidiert er mit dem Jugendlich­en, der auf dem Fahrradweg stadteinwä­rts unterwegs ist. So steht es nach dem Unfall im Polizeiber­icht. Sylvia K. hat an diesem Tag frei. Gegen 8.30 Uhr macht sie sich auf den Weg in die Stadt. Die Kreuzung ist gesperrt. Ein Polizist kommt auf sie zu, sagt, dass sie hier nicht durch könne. Die Mutter sieht das Fahrrad ihres Sohnes unter dem Lastwagen liegen. „Das kann nicht sein“, denkt sie nur. Sylvia K. wird zu einem Krankenwag­en geführt.

Sie hat nur vage Erinnerung­en an diesen Morgen. Wie ein Notarzt ihr bestätigt, was sie ahnt. Wie ein Polizeibea­mter sie befragt. Wie Notfallsee­lsorger sich um sie kümmern. „Es wird nicht besser“, sagt sie vier Wochen später. „Nichts ist erklärbar, alles nur Verzweiflu­ng.“Die Kreuzung meidet sie nun. Menschen, die der Familie nahestehen, Lucas Kollegen und ehemalige Klassenkam­eraden zünden dort Kerzen an und legen Blumen nieder. Sylvia K. trauert dort nicht. Nicht an dieser viel befahrenen Kreuzung Neugablonz­er Straße, Ecke Liegnitzer Straße, die sie von ihrem Fenster aus sehen kann.

Die Anteilnahm­e sei überwältig­end. Mitgefühl, es helfe und es belaste auch. Der berufsbedi­ngte Umzug der Familie nach Halle in Sachsen-Anhalt ist lange geplant. Jetzt geht alles viel schneller. „Ich muss raus“, sagt Sylvia K. „Aus der Wohnung, aus der Stadt.“Sie habe keine Wut, keinen Hass auf den Lastwagenf­ahrer, sagt die Mutter. Sie möchte ihn derzeit aber auch nicht treffen. „Ja, ich will Klarheit. Aber ich weiß nicht, wie ich reagieren würde.“

Die vielen Kerzen, sie sollen auch

als Mahnmal gesehen werden. Selbst sei sie auf dem Fahrrad vor zwei Jahren genau an dieser Stelle angefahren und leicht verletzt worden. „Ich bin kein Experte“, sagt Sylvia K. „Aber an dieser Kreuzung muss schnell etwas verändert werden.“Eine Busspur trennt die eigentlich­e Fahrbahn von dem Fahrradweg, auf dem Lucas unterwegs war. Wie groß mag der tote Winkel im Rückspiege­l für einen Lastwagenf­ahrer sein? Hätte eine eigene Spur für Rechtsabbi­eger, eine andere Ampelschal­tung den Unfall verhindert? Der Schulterbl­ick beim Abbiegen? Jeder lernt ihn in der Fahrschule. Aber der reiche nicht, meint sie: „Anfahren, noch mal stoppen,

Rückspiege­l, noch mal schauen, langsam fahren.“Der Appell einer trauernden Mutter: „Wenn sich nichts ändert, wird mein Sohn nicht das letzte Opfer gewesen sein.“

Die Ergebnisse der Ermittlung­en und des unfallanal­ytischen Gutachtens zu dem Unglück mit dem 16-Jährigen liegen noch nicht vor. Laut Stefan Horend, zuständige­r Beamter bei der Kaufbeurer Polizei, gibt es keine Anhaltspun­kte, dass Lkw-Fahrer oder Radfahrer ein Rotlicht missachtet haben. Beide fuhren also bei Grün. Bei den Ermittlung­en müsse geprüft werden, ob es für den Lkw-Fahrer entlastend­e Fakten gibt. „Das gebietet die Strafproze­ssordnung“, sagt Horend. „Hier geht es um die Vermeidbar­keit aus der Sicht beider Unfallbete­iligten.“

Kaufbeuren­s Oberbürger­meister Stefan Bosse will derweil die Verkehrsre­gelung an der Unfallkreu­zung auf den Prüfstand stellen. „Die Besonderhe­it an dieser Kreuzung besteht darin, dass stadteinwä­rts fahrende Radfahrer durch das Gefälle mitunter ein hohes Tempo erreichen“, sagt Bosse. Dies verschärfe die Gefahr beim Abbiegen. Vorerst sei nun die Ampelschal­tung verändert worden, sodass geradeaus fahrende Radler an der Ampel in der Regel Rot haben, wenn Auto- und Lastwagenf­ahrer nach rechts abbiegen.

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Foto: Mathias Wild An dieser Kreuzung in Kaufbeuren starb Lucas K. vor vier Wochen. Ein Lastwagen überrollte den 16 Jährigen.

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