Bei Jamaika geht’s jetzt ans Eingemachte
Der Druck auf die möglichen Koalitionäre wächst stetig. Kanzlerin Merkel weist die FDP zurecht
Berlin Der FDP-Chef schließt Neuwahlen nicht aus, der CSU-Chef kämpft ums politische Überleben und bei den Grünen fürchtet die Spitze das scharfe Schwert des Parteitags: In den nächsten Tagen wollen die Jamaika-Verhandler Tacheles reden und konkrete Kompromisse finden. Nimmt man Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beim Wort, sollen die Sondierungsgespräche bis 16. November abgeschlossen sein.
Für Verhandlungsführerin Merkel und die Spitzen von CSU, FDP und Grünen geht es erst einmal um eines: kühlen Kopf bewahren. Oder wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Von Verwunderung bis Kopfschütteln reichen am Montag die Reaktionen in der Union über FDP-Chef Christian Lindner.
Der hat gerade erst erneut lautstark verkündet, seine Partei habe „keine Angst vor Neuwahlen“. Er glaube nicht, dass dann vor allem die Rechtspopulisten von der AfD profitierten, wiederholt er gestern sein Mantra. Wenn sich die Anliegen der FDP nicht spürbar in einem Koalitionsprogramm wiederfänden, „gehen wir in die Opposition. Dafür nehme ich jeden Shitstorm in Kauf“.
Ist das Taktik und Rhetorik, um die eigenen Reihen zu schließen – oder ernst gemeint? In der Union rätseln sie über die Beweggründe des Liberalen. Die „Interviewkaskaden“aus den Reihen der gelben und grünen Verhandler seien jedenfalls alles andere als hilfreich. Zwar sei klar, dass auch die FDP ihren Wahlversprechen und Anhängern treu bleiben müsse – aber nun sei bitte zu erwarten, dass mit dem Wahlergebnis konstruktiv umgegangen werde.
Dass die Menschen bei einer vorgezogenen Neuwahl ihre Kreuzchen woanders machen und so eine andere Machtverteilung herbeiwählen könnten, ist derzeit kaum zu erwarten. Platzt Jamaika, würde bei einer Neuwahl das Ergebnis nur wenig anders aussehen als vor sechs Wochen, legt eine Forsa-Umfrage nahe. Ob die SPD dann anders als heute für eine weitere Große Koalition zur Verfügung stünde? Ansonsten bliebe Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nur ein neuer Anlauf auf Jamaika – wenn sie denn überhaupt erneut zur Wahl antreten würde – oder könnte. Bisher jedenfalls setzen in der SPD die Spitzen von Partei und Fraktion voll auf Opposition. Merkel dürfte also ein großes Interesse haben, dass Jamaika gelingt. Sie warnte gestern vor allem die FDP davor, immer wieder eine Neuwahl ins Spiel zu bringen. Alle Partner hätten die Verantwortung, eine stabile Regierung zustande zu bringen.
Die kleinen Unterhändler verfolgten bisher vor allem eine Klientelpolitik, die stark die Binnensichten von FDP und Grünen im Auge habe, wird in der KanzlerinnenPartei analysiert. Dort wird denn auch davor gewarnt, ein JamaikaBündnis könne schon im Ansatz massiv belastet werden, wenn die Partner nicht verbal abrüsteten. Sollten FDP und Grüne weiterhin so zugespitzt formulieren, könne das dazu führen, dass dieser Dissens in Schlagworten früher oder später bei den Menschen haften bleibe.
Doch hinter dem Gezerre der Kleinen stecken massive Zwänge und Ängste. Die Grünen müssen auf ihrem Parteitag am 25. November liefern – beim Klimaschutz, bei Landwirtschaft und Zuwanderung. Gestern Abend wurde bekannt, dass die Partei nicht länger darauf beharrt, im Koalitionsvertrag das Ende des Verbrennungsmotors im Jahr 2030 festzuschreiben. Statt des konkreten Datums verlangt Parteichef Cem Özdemir in der Stuttgarter
Zeitung nur noch „ein klares Bekenntnis, dass wir alles dafür tun, um die Fahrzeuge der Zukunft – vernetzt, automatisiert und emissionsfrei – zu bekommen“.
Christian Lindner und die FDP hingegen müssen deutlich machen: Wir haben nichts zu verschenken, wir haben aus Schwarz-Gelb 2009 bis 2013 unter Angela Merkel gelernt. Denn anschließend flogen die Liberalen aus dem Bundestag. Ganz zu schweigen von den Unsicherheiten, die mit der ungeklärten politischen Zukunft von CSU-Chef Horst Seehofer zusammenhängen. Am Wochenende hatte mit der bayerischen Jungen Union (JU) die erste große CSU-Organisation offen den Rückzug des Ministerpräsidenten verlangt. Seehofer hatte daraufhin angekündigt, sich sehr schnell nach Abschluss der Jamaika-Sondierungen zur eigenen Zukunft und der CSU-Aufstellung zu äußern.
In Berlin ist angesichts von so viel Unruhe in der CSU-Spitze schon die bange Frage aufgetaucht, ob ein möglicher Jamaika-Vertrag denn mit einem Seehofer-Erben erneut durchgekaut werden müsste. In der CDU setzen sie dabei auf die Macht des Faktischen und die politische Vernunft der kleinen Schwesterpartei. Eine Nachverhandlung werde es kaum geben, heißt es da. Es gelte auch für die CSU immer noch das Prinzip der Vertragstreue. Außerdem dürften auch Söder oder andere Seehofer-Feinde kein Interesse daran haben, die CSU ins Chaos zu stürzen. Schließlich ziehe die CSU ihren Nimbus als bundesweit bedeutsame Regionalpartei immer noch auch aus der Regierungsbeteiligung in Berlin.
Umfrage: Der Wähler würde heute kaum anders votieren