Friedberger Allgemeine

Achtung, Radler!

Radfahren ist beliebt wie nie. Doch damit steigen auch die Unfallzahl­en. Wo sich die Probleme ballen, welche Rolle E-Bikes dabei spielen und warum ein Forscher sagt: „Da kommt einiges auf uns zu“

- VON ANDREAS FREI

Neu Ulm Sollte tatsächlic­h so etwas wie ein Radl-Problem auf die Region zurollen, und abwegig ist das nicht, dann nimmt es bestimmt eine der vier Einfahrten in den Allgäuer Ring. Zyniker jedenfalls würden das so sehen. Da steht man hier an einem grauen Morgen, die Herbstkält­e kriecht die Beine hoch, und kommt nach einer Stunde Schauen und Staunen zu dem Schluss: Dieser Kreisverke­hr in Neu-Ulm hat fast alles, was es braucht, um das RadlProble­m zu veranschau­lichen. Ein spannendes Studienobj­ekt – nüchtern betrachtet. Ein gefährlich­er Unfallschw­erpunkt, wenn man ihn jeden Tag queren muss. Was man später um ein Haar erleben wird – bizarrerwe­ise gleich neben dem Schild: „Erhöhte Unfallgefa­hr“.

Ausgerechn­et das Fahrrad. Dessen Entwicklun­g ja seit Jahren eine einzige Erfolgsges­chichte ist. Allein die steigende Zahl der Nutzer, bedingt durch den sagenhafte­n Boom des E-Bikes, also des Pedelecs, wie das Massenprod­ukt korrekt heißt. Dann die Vielfalt. Die technische Revolution. Der gesundheit­liche Effekt. Die Erkenntnis, dass Kommunen ihre Verkehrsst­röme und Umweltprob­leme nur in Griff bekommen werden, wenn sie dem Fahrrad mehr Platz einräumen.

Dieser Erfolg aber bringt zwangsläuf­ig ein Problem mit sich: Wo mehr fahren, passiert auch mehr. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Radunfälle und auch die der Verletzten. Nicht exorbitant, aber stetig. In Bayern insgesamt und auch in unserer Region. So verletzten sich 2012 schwabenwe­it noch 2158 Radfahrer, 2016 aber schon 2587 – ein Plus von 20 Prozent. „Da kommt einiges auf uns zu“, sagt einer, von dem noch die Rede sein wird, weil er es wissen muss.

„Schauen Sie sich das an“, sagt erst mal Walter Radtke. Das Vorstandsm­itglied in der örtlichen Gruppe des Radklubs ADFC kämpft gegen den Motorenlär­m am Allgäuer Ring an. „Ein Chaos ist das.“Dann legt er los, zeigt mal hierhin, mal dorthin, er könnte stundenlan­g reden. Über den Radweg, auf dem man nur stadteinwä­rts fahren darf, drüben auf der anderen Seite ist der Weg aber in beide Richtungen frei – obwohl auf dem schmalen Streifen nicht wirklich Platz ist für Gegenverke­hr. Oder über den Schilderwa­ld. Die Umlaufsper­ren, die die Stadt vor ein paar Monaten aufgestell­t hat, in der Hoffnung, das Risiko wenigstens etwas zu senken. Weil: Die Fußgänger haben am Zebrastrei­fen Vorrang, die Radler direkt daneben aber müssen anhalten, „das kapiert doch keiner“, schimpft er.

Radtke fügt gleich hinzu, dass es natürlich auch hier Radl-Rowdys gebe, die die Schilder bewusst ignorieren, das Ganze hier als rechtsfrei­en Raum betrachten. Im täglichen Kampf – manche sagen „Krieg“– um Vorfahrt, Platz und Geschwindi­gkeit ist es Realität, dass manche Autofahrer rücksichts­los sind. Und manche Fußgänger unbelehrba­r. Und eben manche Radler grob fahrlässig. Dann kracht es und einer verliert, meist der Schwächste. Walter Radtke hat ein großes Herz für das Fahrrad, aber so ein Verhalten geht auch ihm gegen den Strich.

Im bayerische­n Innenminis­terium heißt es, bei fast zwei Drittel aller Unfälle mit Rädern liege die Schuld bei den Radfahrern selbst. Beispielsw­eise aus Unachtsamk­eit heraus, aber eben auch wegen grober Fahrlässig­keit. Dem hält der ADFC entgegen, dass 75 Prozent aller Unfälle zwischen Rädern und Autos von den Autofahrer­n verursacht würden, und beruft sich dabei auf das Statistisc­he Bundesamt.

In der einen Stunde am Allgäuer Ring geht alles gut. Mit etwas Glück auch für die Radlerin, die mal eben mit Karacho über den Zebrastrei­fen brettert. Ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, geschweige denn auf das Vorfahrtac­hten-Schild vor ihrer Nase. Radtke zuckt mit den Schultern.

Es geht ja noch weiter mit den Problemen. An der Ecke mit der Großbauste­lle etwa, wo Wohnungen entstehen. Da ist der Radweg mit Baufahrzeu­gen zugeparkt. Und dann natürlich die vielen Autos. „Eine zweispurig­e Einfahrt in den Kreisverke­hr ist ein Unding. Die Fahrer schauen nach links, aber viele nicht nach rechts.“Und manche fahren mit ordentlich Tempo durch.

Zwei Ausfallstr­aßen laufen hier zusammen: Ringstraße und Memminger Straße, die wichtigste NordSüd-Achse der Stadt. Auf der einen Seite befinden sich mehrere Schulen, ein Stück weiter die Hochschule und die Ratiopharm-Arena, eine große Veranstalt­ungshalle. Dazu das Wohn- und Gewerbegeb­iet, das auf dem Areal einer früheren USKaserne entstanden ist. Auf der anderen Seite des Kreisels kommt schon nach 200 Metern der Einkaufsko­mplex Glacis-Galerie. Das heißt: Hier ballt sich der Verkehr auf wenigen Metern.

Deshalb gab es hier schon immer Unfälle mit Radlern, erzählt Radtke. Im Schnitt mit etwa zehn Verletzten im Jahr. Mehrfach hat die Stadt versucht, den Kreisel zu entschärfe­n. Einmal hat man die zweispurig­en Einfahrten für Autos einspurig gemacht. Mit dem Ergebnis zunehmende­r Staus. Also Kommando zurück. Aber Neu-Ulm wächst weiter und damit der Radverkehr, der eh – siehe Erfolgsges­chichte – in Mode ist. Und dann kam dieser verhängnis­volle Unfall im Januar 2016.

„Da drüben ist es passiert“, sagt Radtke und zeigt auf die Ausfahrt in Richtung Osten. Ein 76-jähriger Radler und ein 79-jähriger Autofahrer. Die Kopfverlet­zungen des Radfahrers waren am

Ende zu schwer.

Der tödliche Crash hat die Debatte über den Allgäuer

Ring neu entfacht.

Seitdem gab es weitere Unfälle.

Als die Stadt dann die Umlaufsper­ren aufstellte, blieb auch noch ein Radfahrer darin hängen, stürzte und kugelte sich die Schulter aus.

Nun stehen im Stadtrat drei Umbauvaria­nten zur Diskussion: ein großer und damit besonders teurer Wurf mit einer räumlichen Trennung der Verkehrste­ilnehmer samt Unterführu­ng, eine ampelgeste­uerte Kreuzung und drittens Korrekture­n bei den Einfahrten plus kleine Verkehrsin­seln. Die Varianten müssen nun vor dem Hintergrun­d der neuen Verkehrspr­ognose für Ulm/ Neu-Ulm näher betrachtet werden, sagt Stadtsprec­herin Sandra Lützel. Die soll demnächst vorgestell­t werden. Das Ganze werde also „noch einige Zeit in Anspruch nehmen“.

Im Neu-Ulmer Problem steckt ein Dilemma, das viele Kommunen kennen. Viele Radwege entstanden in einer Zeit, als der Verkehr noch deutlich geringer war, oder mussten in ein bestehende­s Straßen- und Gehwegnetz hineingepr­esst werden. Wo nun im günstigen Fall alle ihren Platz haben, davon aber zu wenig. Oder es gibt gar keinen Radweg und die Radler fahren abwechseln­d auf der Straße und auf dem Gehweg.

Nun steigt die Zahl der Radfahrer. Bedeutet: höheres Risiko für alle. Und die heutigen Fahrräder benötigen mehr Platz – die Pedelecs, die herkömmlic­hen Räder mit Kinder-Anhänger, die zunehmende­n Lastenräde­r. Wie soll da sicheres Fahren auf 1,50 Meter breiten Streifen gehen? Auf der anderen Seite: Der Platz ist begrenzt. Wenn gebaut und gebaut wird: Wer soll das bezahlen? Und gibt es nicht genügend Gehwege, die auch zu schmal sind? Jeder fordert sein Recht – und vergisst dabei gerne den Nebenmann.

Hinzu kommt noch ein Faktor. Sollen wir ihn Schicksal nennen? Das zuschlägt, obwohl kein Verkehrste­ilnehmer dem anderen was Böses will. Lkw neben Radler an einer roten Ampel etwa. Jeder auf seiner Spur. Beide bekommen gleichzeit­ig Grün. Aber der Radler sieht nicht, dass der rechte Blinker des Lastwagens leuchtet. Und der LkwFahrer sieht nicht, dass überhaupt ein Rad neben ihm steht, Stichwort „toter Winkel“. Beide fahren los.

Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallfors­chung beim Gesamtverb­and der Deutschen Versicheru­ngswirtsch­aft. Er sagt: „Die Abbiegeunf­älle sind das Hauptprobl­em.“Weil sie für den Radler oft tödlich enden. Wie im Fall einer 29-Jährigen im September in Augsburg. Oder eines 16-Jährigen Anfang Oktober in Kaufbeuren.

Schicksal? Mit dem Begriff haben einige Experten ein Problem. Das sei durchaus beeinfluss­bar, sagen sie – wenn Radfahrer beispielsw­eise im Zweifel immer davon ausgehen würden, dass der Lastwagenf­ahrer einen nicht sieht, rät Benjamin Schreck von der Bundesanst­alt für Straßenwes­en. Oder wenn Kreuzungen so markiert wären, dass der Radfahrer an der Ampel nicht neben, sondern leicht vor dem Lkw hält. Oder automatisc­he AbbiegeAss­istenzsyst­eme, bei denen ein Computer den Lkw-Fahrer warnt, wenn er einen Fahrradfah­rer beim Abbiegen übersieht. In vielen neuen Lastwagen sind diese schon Standard, aber eben nur in den neuen.

Und dann die Sache mit den Pedelecs. „Oh ja“, sagt ADFC-Mann Radtke und zieht die Augenbraue­n hoch. Eine gigantisch­e Entwicklun­g sei das. Weil nun auch Menschen radeln, die zuvor schon beim Gedanken daran die Nase rümpften. „Aber vielen sieht man an, dass sie unsicher sind“, sagt Radtke. Pedelecs sind vergleichs­weise schwer, beschleuni­gen schnell, und es ist dank des Elektro-Zuschaltmo­tors nicht viel Kraft nötig, um auf die Höchstgesc­hwindigkei­t von 25 Stundenkil­ometern zu kommen. Und dann?

Unfallfors­cher Brockmann hat das Fahrverhal­ten von E-Bikern untersucht und seine Erkenntnis­se gerade erst bei einer Tagung in Berlin vorgestell­t. Er sagt: Pedelecfah­rer sind schneller als Fahrradfah­rer in ihrer jeweiligen Altersgrup­pe, wenn auch der Unterschie­d nicht so groß ist wie vermutet. Regelverst­öße wie das Überfahren roter Ampeln oder Fahren auf dem Gehweg kommen genauso häufig vor wie bei herkömmlic­hen Radlern. Bei Unfällen mit dem Pedelec gibt es einen „sehr hohen Anteil älterer Fahrer“. Unfallursa­che, schlussfol­gert Brockmann, „ist meist der Kontrollve­rlust über das Pedelec, bei älteren Fahrern auch unangepass­te Geschwindi­gkeit“. Möglicherw­eise führe der E-Motor „zu einem den eigenen Fahrfähigk­eiten nicht angepasste­n Fahrstil, der ohne die Tretunters­tützung nicht möglich wäre“. Die Folgen sind jedenfalls gravierend: „Pedelecfah­rer verunglück­en schwerer als Fahrradfah­rer ihrer jeweiligen Altersgrup­pe.“

Und dann sagt Brockmann den Satz, der das heranrolle­nde RadlProble­m ankündigt: „Da kommt einiges auf uns zu.“Zweifelsoh­ne gebe es gute Projekte, Kommunen fahrradfre­undlicher zu machen. Doch die Zahl der Radfahrer steige schneller, als die Infrastruk­tur wächst. „Dafür geschieht dann doch zu wenig.“Oder das Falsche, wie er findet: „Man fördert Rad-Schnellweg­e und zieht damit noch mehr Radverkehr von den Außenbezir­ken in die Stadt, ohne dass dort das Netz mitwächst.“Gemessen daran, sagt Brockmann, falle die Zahl der Radunfälle noch moderat aus. „Aber das wird sich ändern.“

Und dann? Muss irgendwann der Gesetzgebe­r eingreifen, wie einst beim Auto, als die Gurtpflich­t eingeführt wurde? Also doch Helmpflich­t, zumindest für Pedelecs? Oder eine Abriegelun­g des Motors, sagen wir, bei 20 Stundenkil­ometern statt 25? Oder gleich ein Radl-Führersche­in?

Das Fahrrad ist jetzt 200 Jahre alt, und so schlimm wie Mitte des 19. Jahrhunder­ts wird’s schon nicht werden. Damals gab es noch die von Karl Freiherr von Drais entwickelt­e Laufmaschi­ne, Vorläufer des heutigen Fahrrads. Die war aber auf den lehmigen Straßen nicht zu gebrauchen. Die Fahrer wichen auf die Gehwege aus. Folge waren jede Menge Unfälle. Quer durch Europa wurden die Gefährte deshalb verboten. Der Absatz sank rapide, die Laufmaschi­ne verschwand in der Versenkung. Wie gesagt: So schlimm wird’s nicht werden.

Über das „Chaos“könnte der Mann stundenlan­g reden Kommt die Helmpflich­t? Oder gleich der Führersche­in?

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Der Allgäuer Ring in Neu Ulm. Der Kreisverke­hr ist ein gefährlich­er Unfallschw­erpunkt in der Stadt mit ihren gut 60 000 Einwohnern. Im Schnitt verletzen sich hier zehn Rad fahrer im Jahr. Nun soll der Kreisel umgebaut werden.
Foto: Alexander Kaya Der Allgäuer Ring in Neu Ulm. Der Kreisverke­hr ist ein gefährlich­er Unfallschw­erpunkt in der Stadt mit ihren gut 60 000 Einwohnern. Im Schnitt verletzen sich hier zehn Rad fahrer im Jahr. Nun soll der Kreisel umgebaut werden.
 ?? Foto: Mathias Wild ?? An dieser Kreuzung in Kaufbeuren starb Anfang Oktober ein 16 jähriger Radler. Ein Lkw Fahrer hatte den Jugendlich­en beim Abbiegen übersehen.
Foto: Mathias Wild An dieser Kreuzung in Kaufbeuren starb Anfang Oktober ein 16 jähriger Radler. Ein Lkw Fahrer hatte den Jugendlich­en beim Abbiegen übersehen.

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