Zeitsparen, Momo!
Michael Endes Klassiker überzeugt als Familienstück. Es erschreckt, dass das Buch immer aktueller wird
Michael Endes „Momo“ist ein Stoff, der immer aktueller wird. 1973 hat der Schriftsteller seinen Roman über das Mädchen, das so gut zuhören kann, und die Grauen Männer, die die Menschen zum Zeitsparen anhalten, vorgelegt. Gut 40 Jahre später gehören Fortbildungen zum Zeitmanagement zum Standard in größeren Firmen, ist die Freizeit von Schülern komplett durchgetaktet, werden Trödeln und Verbummeln, Langeweile und Muße langsam zu Fremdwörtern.
Die Inszenierung des Theaters Augsburg, die am Sonntag als Familienstück Premiere hatte, bringt dieses Fortschreiten der gesellschaftlichen Entwicklung plastisch ins Bild. Aus Endes Fantasiestadt haben Regisseurin Jule Kracht, Bühnenbildnerin Nora Lau und Kostümbildnerin Ursula Bergmann ein Amphitheater in einer italienischen Kleinstadt irgendwann in den 1970er Jahren gemacht. Der Bauarbeiter Nicola und der Wirt Nino streiten sich, aber sie reden immerhin noch miteinander. Gigi, der Tausendsassa, erzählt die tollsten Geschichten, auch wenn den anderen die Pointe fehlt. Mittendrin ist Momo, die alle so intensiv anstrahlt, wenn sie zuhört, dass niemand mehr mit dem Erzählen aufhören will.
In diese Welt brechen die Grauen Herren ein, die in Augsburg nicht mit Zigarren, sondern E-Zigaretten ihre Gegenüber so einnebeln, dass sie bereitwillig ins Zeitsparen einwilligen. Etwa Fusi, der Friseur, dem haarklein vorgerechnet wird, wie viel Lebenszeit er vergeudet hat, weil er nicht nur schläft, arbeitet und isst, sondern auch noch eine volle Stunde am Tag mit seiner Mutter spricht, obwohl sie taub ist und kaum noch etwas versteht.
Während Momo von Meister Hora die Geheimnisse über die Zeit erfährt, gibt es einen Zeitsprung. Im Stück verbringt sie dort Jahre. Der Stoff wird danach in die Gegenwart gebracht. Nino verkauft im Akkord, weil er aus seinem Lokal einen Schnellimbiss gemacht hat; Gigi ist ein Star, dessen persönliche Assis- tentin über Antennen und SmartestWatch mit der ganzen Welt verknüpft ist. Die Regisseurin Jule Kracht zeigt mit sparsamen, aber effektiven Mitteln, wie aktuell Michael Endes „Momo“geworden ist – oder andersherum, wie umfassend der Siegeszug der Grauen Männer tatsächlich ist.
Das Ensemble spielt dieses Stück mit großer Leidenschaft. Gerald Fiedler, Ute Fiedler, Thomas Prazak, Anatol Käbisch, Roman Pertl und Karoline Stegemann wechseln quer durch alle Rollen. Die Schauspielerin Linda Elsner hält als Momo alles zusammen. Sie taucht tief in die Kindheit ein, gibt ihrer Momo im Anblick des Zeitsparwahns naiv-trotzige Züge. Die knapp zwei Stunden, die Momo bei der Premiere dauert, vergehen wie im Flug. Langer Applaus für die gelungene Inszenierung. Und Erleichterung darüber, dass der Regen in Unwetterlautstärke, der das Hörvergnügen zwischendrin im Saal eingeschränkt hat, sich zum Stückende wieder gelegt hat.
OTermine Es stehen 40 Vorstellungen bis 18. Januar im Martinipark auf dem Spielplan des Theaters Augsburg