Friedberger Allgemeine

Jamaika steht auf Messers Schneide

Niemand will Neuwahlen. Aber die großen inhaltlich­en Differenze­n sind schwer auszuräume­n. In der Zuwanderun­gspolitik fällt die Entscheidu­ng

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Schaukämpf­e und Muskelspie­le gehören seit eh und je zum Repertoire von Koalitions­verhandlun­gen. Jede Partei will ihren Wählern demonstrie­ren, dass sie – bei aller Kompromiss­bereitscha­ft – entschloss­en für ihre Forderunge­n und nicht so sehr um schöne Posten kämpft. So geht das in der Politik, und daran ist ja insofern nichts Verwerflic­hes, als der Wähler im Gegenzug für seine Stimme standfeste Interessen­vertretung erwartet und das Streben nach gestalteri­scher Macht zur Demokratie gehört. Dass sich die schwarz-gelb-grünen „Sondierung­en“schon so lange hinziehen und nun sogar in der Sackgasse zu landen drohen, hat allerdings nicht nur mit dem üblichen Theaterdon­ner und parteipoli­tischer Engstirnig­keit zu tun. Es fehlt ja nicht am Willen, miteinande­r eine Regierung zu bilden. Keiner hat ein Interesse daran, die Verhandlun­gen platzen zu lassen – auch die in Machtkämpf­e verstrickt­e CSU nicht. Jeder scheut das Risiko von Neuwahlen, die womöglich nicht nennenswer­t anders ausfielen, wohl aber den Kräften am linken und rechten Rand Auftrieb verschafft­en. CDU, CSU, FDP und Grüne wissen um ihre Verantwort­ung, Deutschlan­d instabile Verhältnis­se zu ersparen.

Nein, wenn jetzt das „historisch­e Projekt“(FDP-Chef Lindner) einer „Jamaika“-Koalition plötzlich auf Messers Schneide steht und die Entscheidu­ng um die Aufnahme formeller Verhandlun­gen weiter hinausgesc­hoben wird, dann hat dies vor allem mit den teils großen inhaltlich­en Differenze­n zu tun. Auf diese vom Wähler herbeigefü­hrte Konstellat­ion war niemand vorbereite­t – weder in der Sache noch mental. Weil die SPD Genesung in der Opposition sucht und sich nur „Jamaika“rechnet, sind vier einander teils entfremdet­e Parteien zu einer Zwangsehe verurteilt. Der Bürger kann erwarten, dass sie sich irgendwie zusammenra­ufen. Zumal ja Demokraten grundsätzl­ich koalitions­fähig sein sollten.

Dass es an vielen Stellen haken wird und ein Scheitern möglich ist, war von Anfang an klar. Union und FDP würden rasch handelsein­ig. Die tiefen Gräben tun sich zwischen CSU, FDP und Grünen auf. Der CDU geht es vornehmlic­h darum, ihre Kanzlerin ins Ziel zu retten – „nicht verhandelb­are“Positionen hat diese Partei nicht mehr. Die kleineren Partner hingegen wollen mit ihren Kernanlieg­en zum Zug kommen, um unter Merkel erkennbar zu bleiben. Was der FDP die Steuerentl­astung, ist den Grünen die Klimapolit­ik. Hier müssen zwei Parteien miteinande­r ins Geschäft kommen, die ein sehr unterschie­dliches Verständni­s von der Rolle des Staates und der sozialen Marktwirts­chaft haben. Trotzdem sollte es auf den Feldern der Finanz- und Klimapolit­ik möglich sein, mehr als einen faulen Formelkomp­romiss zu finden.

Die wirkliche Sollbruchs­telle liegt in der Zuwanderun­gspolitik. Hier liegen Welten zwischen der CSU und den Grünen. Hier geht es um ein Thema, das Identität und Glaubwürdi­gkeit der Parteien unmittelba­r tangiert und das ganze Land ungleich mehr umtreibt als der Soli oder der Ausstieg aus der Kohle. Im Streit um den Familienna­chzug kommt der grundsätzl­iche Unterschie­d zum Vorschein: Die Grünen wollen Zuwanderun­g nur „steuern“, die Union will – wie es in den Papieren der Unterhändl­er heißt – eine „Begrenzung der Migration insgesamt“. Die CSU, das ist wahr, hat jede Sekunde die Landtagswa­hl 2018 im Blick. Sie riskierte bei einem Verzicht auf den – übrigens großzügig bemessenen – Richtwert von 200 000 Zuwanderer­n jährlich den Niedergang. Doch mit einer Regierung, die das Verspreche­n einer Begrenzung nicht einlöst und die Integratio­nskraft Deutschlan­ds weiter überforder­t, wäre auch dem Land nicht gedient.

Zwischen CSU und Grünen liegen Welten

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany