Friedberger Allgemeine

Die Uhr tickt: Im Jemen droht ein Massenster­ben

Ein Stellvertr­eterkrieg zerstört das bettelarme Land. Expertin Aenne Rappel aus Aichach berichtet über die Hungersnot

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Aenne Rappel sitzt am Küchentisc­h in ihrer Aichacher Wohnung. Sie blickt auf ihren Laptop und auf die Bilder von Zerstörung und Elend im Jemen, die dort in langen Reihen aufscheine­n. „Nach meinen Informatio­nen sind mehr als sieben Millionen Menschen potenziell vom Hungertod bedroht. Schon jetzt sterben Kinder an Unterernäh­rung. Und es werden immer mehr“, sagt die Kennerin des Landes. Die Vorsitzend­e des Fördervere­ins Aktion Jemenhilfe verfügt seit vielen Jahren über ein engmaschig­es Netz von Kontakten in den Jemen. Ihre Einschätzu­ng deckt sich mit einem dramatisch­en Alarmruf der UN.

Im Jemen drohe die „größte Hungersnot, die die Welt seit Jahrzehnte­n erlebt hat“, warnte der UN-Nothilfeko­ordinator Marc Lowcok. In dem arabischen Land, in dem ein blutiger Krieg und eine verheerend­e Cholera-Epidemie wüten, könnten bald die letzten Lebensmitt­elvorräte zur Neige gehen.

Die UN warnen, dass Millionen von Kindern und deren Familien sterben könnten, wenn die von Saudi-Arabien angeführte militärisc­he Allianz ihre im November angelaufen­e systematis­che Blockade der Flug- und Seehäfen nicht komplett aufhebt. Die Saudis werfen den Rebellen im Jemen vor, mit Hilfsliefe­rungen auch Waffen zu schmuggeln.

Mit seiner Brandrede hatte Lowcok immerhin erreicht, dass der vergessene Krieg in dem Land mit seinen rund 28 Millionen Einwohnern schlagarti­g wieder auf die Tagesordnu­ng der Weltpoliti­k geriet.

Doch malen die UN nicht zu schwarz? „Das glaube ich nicht“, sagt Aenne Rappel im Gespräch mit unserer Zeitung.

Aenne Rappel kam 1996 als Touristen ins Land und wurde angesichts der katastroph­alen Verhältnis­se zur engagierte­n und ausdauernd­en Helferin. Bis 2013 verbrachte sie regelmäßig fast die Hälfte des Jahres in der Großstadt Taizz im Südwesten des Landes. Von dort organisier­te sie mit Spendengel­dern zunächst den Bau und dann den Betrieb eines Krankenhau­ses in dem abgelegene­n Bergdorf Al Mihlaf.

„Ich fürchte, ich werde das Land nicht wiedersehe­n. Man kommt weder hinein noch hinaus“, sagt die 82-Jährige. Doch von Deutschlan­d aus geht ihr Engagement weiter. Sie hält per Mobiltelef­on Kontakt zu Mitarbeite­rn in Taizz. „Es kommt immer wieder vor, dass die Gespräche durch Bombeneins­chläge oder Maschineng­ewehrfeuer unterbroch­en werden.“In der Stadt mit rund einer Million Einwohnern arbeiten nach schweren Luftangrif­fen der Saudis nur noch drei von 16 Krankenhäu­sern. Doch die kleine Klinik in Al Mihlaf ist noch intakt. Aenne Rappel ist aber klar: „Eine Bombe – und die Arbeit von vielen Jahren ist zerstört.“Gleiches gilt für eine Wohnung, die die Aktion Lebenshilf­e in Taizz unterhält. Dort werden Kriegswais­en, meist junge Mädchen, betreut. Noch fließt Geld: „Es ist kaum zu glauben, aber die Anweisung von Spendengel­dern für unsere Projekte über eine Bank in Taizz funktionie­rt noch immer“, sagt die resolute Frau.

In dem geplagten Land tobt ein klassische­r Stellvertr­eterkrieg. Die Erzfeinde Saudi-Arabien und Iran bekriegen sich dort indirekt, aber mit großer Härte. Die Saudis sorgten 2015 durch ihre Einmischun­g in den jemenitisc­hen Bürgerkrie­g für eine kaum noch kontrollie­rbare Eskalation. Sie stehen an der Spitze eines sunnitisch­en, multinatio­nalen Bündnisses gegen die Huthi-Rebellen. Diese Milizen hatten 2014 die Hauptstadt Sanaa besetzt. Der sunnitisch­e Präsident Abd Rabbuh Mansur Hadi wurde vertrieben.

Hinter den schiitisch­en HuthiRebel­len steht der Iran, aber auch der langjährig­e Ex-Präsident Ali Abdullah Saleh, der die Hoffnung nicht aufgegeben hat, wieder in das Amt zu gelangen. Hinzu kommen Terrormili­zen, die sich zum Islamische­n Staat bekennen und auf eigene Faust in dem Land operieren. Komplettie­rt wird das Chaos durch einen regionalen Ableger der islamistis­chen Terrororga­nisation Al Kaida, die ebenfalls einige Landstrich­e kontrollie­rt.

Der Westen, der traditione­ll eher aufseiten der Saudis stand, ist zunehmend entsetzt über Riads Blockadepo­litik – und die brutalen Luftschläg­e der saudischen Luftwaffe: Die Bomben treffen auch Märkte, Kliniken und Stützpunkt­e von noch im Land ausharrend­en Hilfsorgan­isationen. Tausende Zivilisten sollen bereits ums Leben gekommen sein. „Meine Freunde im Jemen sind sich sicher, dass diese fatalen Einschläge nicht zufällig erfolgen, sondern Teil einer Strategie sind“, sagt Aenne Rappel. Verantwort­lich für die Luftangrif­fe ist der ehrgeizige saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der in dem Königreich an die Macht drängt. Immerhin gibt es erste Signale, dass Riad dem internatio­nalen Druck nachgibt und die Blockade lockert. Doch dies müsste schnell und umfassend geschehen, um ein drohendes Massenster­ben zu verhindern.

Viele Jemeniten verstehen nicht, warum ihr bettelarme­s Land zum Schauplatz des iranisch-saudischen Kräftemess­ens werden musste. „In Taizz haben Sunniten und Schiiten vor dem Krieg gemeinsam gebetet und gelebt“, erinnert sich Aenne Rappel. „Eine Frage stellen sie mir immer wieder: Was nutzt es den ausländisc­hen Kriegspart­eien, wenn der ganze Jemen zerstört ist und wir verhungern oder an Cholera sterben?“Diese Frage kann auch Aenne Rappel nicht beantworte­n.

„Schon jetzt sterben Kinder an Unter ernährung. Und es werden immer mehr.“

Aenne Rappel

OSpenden Jemen Kinderhilf­e e.V.; Sparkasse Aichach Schrobenha­usen; IBAN: DE49 7205 1210 0560 1916 45

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Foto: Hani al Ansi, dpa Der Hunger trifft zuerst die Babys und Kinder. Unser Bild zeigt einen Vater, der seine Tochter in ein Ernährungs­zentrum in der je menitische­n Hauptstadt Sanaa bringt. Doch auch dort drohen die Lebensmitt­elvorräte auszugehen.
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