Friedberger Allgemeine

Das Leben und Sterben schwäbisch­er Juden

Das Jüdische Kulturmuse­um Augsburg-Schwaben erhält ein großes Forschungs­archiv zur regionalen NS-Geschichte geschenkt. Erarbeitet wurde es über Jahrzehnte von Gernot Römer, einst Chefredakt­eur dieser Zeitung

- VON ANGELA BACHMAIR

Augsburg Es ist nur eine Unterschri­ft: Vorname, Nachname. Aber die wenigen Buchstaben besiegeln die Zukunft der Leistung eines halben Lebens; sie bedeuten Verlust für den einen und Gewinn für die anderen.

Mit der Unterzeich­nung eines Schenkungs­vertrags vor wenigen Tagen hat Gernot Römer, der langjährig­e Chefredakt­eur dieser Zeitung, alles Material, das er in 40 Jahren über schwäbisch­e Juden in der NS-Zeit zusammentr­ug, dem Jüdischen Kulturmuse­um AugsburgSc­hwaben übereignet. Das ist von einer kaum hoch genug einzuschät­zenden Bedeutung für die gesamte Region. Denn tausende von Briefen, Dokumenten und Fotografie­n helfen, ein Stück schwäbisch­e Historie zu rekonstrui­eren und zu bewahren: die jüdische Zeitgeschi­chte Schwabens, die die Nationalso­zialisten zerstört haben. Museumslei­terin Benigna Schönhagen ist glücklich, dass es ihr nach langen Bemühungen und trotz anderer Interessen­ten gelungen ist, die Sammlung Römer fürs Museum zu sichern.

Leicht ist es Gernot Römer nicht gefallen, die Schenkung zu vollziehen. „Ja, es tut schon weh, das alles abzugeben“, sagt der 88-Jährige wehmütig, um dann aber gleich sehr gefasst fortzufahr­en: „Aber es ist richtig, ich will das geregelt haben.“Mehr als 100 Ordner stehen noch in seinem Arbeitszim­mer in Stadtberge­n bei Augsburg, bevor sie in Kürze in einen Archivraum des Jüdischen Museums umziehen werden. Warum es wehtut, die gesammelte­n Zeugnisse jüdischen Lebens loszulasse­n? „Das ist mir immer eine Herzenssac­he gewesen. Es gab so viele wunderbare Begegnunge­n mit Menschen, und auch so viele schlaflose Nächte, wenn ich wieder einmal auf ein schrecklic­hes Schicksal gestoßen bin.“

Gernot Römer, 1929 in Wuppertal geboren, begann Mitte der 1970er Jahre nach Spuren schwäbisch­er Juden zu suchen. Da war er – nach Stationen in Darmstadt, Nürnberg und Essen – gerade mit seiner Frau und den vier Töchtern nach Augsburg umgezogen, hatte in der Redaktion der Augsburger Allgemeine­n angefangen und schnell bemerkt, dass man in Schwaben so gut wie nichts wusste über jene Menschen, die von den Nazis vertrieben oder ermordet worden waren. Er begann, nach den Namen der Toten und der Flüchtling­e zu suchen („Ein amerikanis­cher Soldat war der Erste, der mir von seinen umgekomme- Verwandten erzählt hat“). So fand er die Adresse eines Emigranten, und der wusste wieder etwas von jemand anderem. Mit diesem „Schneeball­system“entdeckte Römer nach und nach hunderte von Menschen, denen entweder die Flucht vor Hitler geglückt war oder die ihm von ihren ermordeten Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten erzählen konnten.

Römer suchte in Archiven nach Dokumenten über jüdisches Leben vor 1933 und ihr jüdisches Leiden danach; er schrieb Briefe und unternahm viele Reisen in die USA, nach Israel und in andere Länder, um die Überlebend­en oder die Nachfahren der Toten zu treffen. Ungezählte Zeitungsar­tikel sind ab Anfang der 1980er Jahre aus dieser Forschungs­arbeit entstanden – vom Chef selbst auch aus der Feder jüngerer Kollegen, die er auf die Spur der Zeitgeschi­chte gesetzt hatte, fast alle in der Augsburger Allgemeine­n erschienen, die sich damit bundesweit ein Renommee als besonders geschichts­bewusste Tageszeitu­ng erwarb.

Vor allem aber publiziert­e Römer zahlreiche Bücher. „Der Leidensweg der Juden in Schwaben“war 1983 das erste; es folgten Schilderun­gen der Ausgrenzun­g und Vertreibun­g schwäbisch­er Juden, der Euthanasie­morde („Die grauen Busse in Schwaben“), aber auch der wenigen Beispiele von Widerstand und Hilfe für die Verfolgten („Es gibt immer zwei Möglichkei­ten“) sowie Biografien schwäbisch­er Juden. Eine echte Pionierarb­eit, die zudem schon die Erkenntnis heutinen ger Geschichts­didaktik vorwegnahm: Dass man nämlich konkrete Schicksale vorstellen muss, um den Nachgebore­nen historisch­e Verläufe verstehbar zu machen.

Wie aber konnte der Journalist, der zunächst als Chef vom Dienst, dann als Mitglied der Chefredakt­ion und schließlic­h als verantwort­licher Chefredakt­eur bis 1994 eine große Tageszeitu­ng leitete, neben dem strapaziös­en Tagesgesch­äft diese Forschung betreiben? „Das verdanke ich meiner ersten Frau“, sagt der alte Herr bescheiden. Ellen Römer, wie ihr Mann aus Wuppertal (beide kannten sich schon aus Kindertage­n), führte die umfangreic­he Korrespond­enz mit den Zeitzeugen, organisier­te die Reisen und „hatte immer Verständni­s“für den Ehemann, der vor oder nach einem langen Reoder daktionsta­g, an Wochenende­n und im Urlaub an seinem Lebensthem­a arbeitete. „Wenn Papa sagte, das ist jetzt mein letztes Buch, glaubten wir das keinen Augenblick“, erzählt Tochter Gaby Römer aus dem Familienal­ltag. Auch als ihr Vater in den Ruhestand gegangen war, beendete er nicht sein Engagement für die jüdische Geschichte Schwabens – im Gegenteil: Er leitete den Stiftungsr­at des Jüdischen Kulturmuse­ums, dessen Ehrenvorsi­tzender er heute ist, und er unternahm, etwa mit der deutsch-israelisch­en Gesellscha­ft, Reisen nach Israel und ins polnische Piaski, wo ein Gedenkstei­n für die aus Schwaben dorthin deportiert­en Juden aufgestell­t wurde.

Der nie nachlassen­de Einsatz für die Erinnerung an die verfolgten Juden speist sich aus frühen Erfahrunge­n. Römer erzählt, wie er als Neunjährig­er mit seiner Mutter in die Praxis eines jüdischen Kinderarzt­es kam und dort vor eingeschla­genen Türen und Fenstern stand. Es war der Morgen nach der Pogromnach­t des 9. November 1938. „Ich war fassungslo­s.“Und dann war da noch Heinrich Selzer aus dem Dorf Obernau an der Sieg, der Vater des Dienstmädc­hens der Familie Römer, ein einfacher Hüttenarbe­iter und aufrechter Kommunist. Ihn besuchte der Junge regelmäßig („In HJ-Uniform bin ich da hingereist“), und am Kaffeetisc­h setzte ihm der Mann auseinande­r: „Gernot, du wirst noch begreifen, dass Hitler ein Verbrecher ist.“Heinrich Selzer habe ihn zum politische­n Menschen gemacht, resümiert Römer.

Zu einem Menschen, der seine Liebe zum Theater (dabei hat es ihm besonders die Märchenfig­ur der „Undine“in Schauspiel und Oper angetan) hintanstel­lte, weit hinter die Erforschun­g jüdischer Schicksale. Dass diese weitergehe­n und dass dafür das von ihm gesammelte Material erschlosse­n wird, das haben ihm Museumslei­terin Benigna Schönhagen und der neue Stiftungsv­orsitzende Hans-Eberhard Schurk vertraglic­h zugesicher­t. Zahlreiche Namen müssen festgehalt­en und einander zugeordnet werden; Fotografie­n gilt es zu beschrifte­n. Für die Erschließu­ng hat das Museum bereits ein Gutachten eingeholt. Dieses empfiehlt, Briefe, Dokumente und Fotos so zu ordnen und zu verzeichne­n, dass sie auch digital nutzbar sind. Dafür sei die Arbeit eines Jahres erforderli­ch. „Frau Schönhagen nimmt sich dessen an“, sagt Gernot Römer zuversicht­lich. Er hat sein Archiv abgegeben, er hat das Seine getan.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Auch die jüdische Familie Lemle aus Fischach (Bild oben), von der etliche Mitglieder durch die Nazis ermordet wurden, ist durch Gernot Römer erforscht worden. Auf dem Bild unten unterzeich­net er zwischen dem Stiftungsv­orsitzende­n Hans Eberhard Schurk...
Foto: Ulrich Wagner Auch die jüdische Familie Lemle aus Fischach (Bild oben), von der etliche Mitglieder durch die Nazis ermordet wurden, ist durch Gernot Römer erforscht worden. Auf dem Bild unten unterzeich­net er zwischen dem Stiftungsv­orsitzende­n Hans Eberhard Schurk...

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