Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (7)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
Was ist denn passiert? Bist du Gott über den Weg gelaufen, oder was?“
„Gott?“Eine Sekunde lang starrte er mich verwirrt an. Dann lachte er und sagte: „Ah, verstehe. Du meinst, weil ich nicht mehr… so zornig werde.“
„Nicht nur das, Tommy. Du hast die Wende selber herbeigeführt. Ich hab dich beobachtet. Deswegen hab ich gefragt.“
Tommy zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich bin ich ein bisschen erwachsener geworden. Und vielleicht gilt das auch für die anderen. Man kann ja nicht immer und immer dasselbe machen, mit der Zeit wird das fad.“
Ich erwiderte nichts, sondern sah ihn nur weiter an, bis er noch einmal auflachte und sagte: „Kath, du bist wirklich neugierig. Okay, wahrscheinlich gibt es da wirklich etwas, was dazu beigetragen hat. Wenn du willst, erzähl ich’s dir.“
„Dann schieß los.“
„Ich erzähl’s dir, Kath, aber du darfst es nicht weitersagen, gut? Vor ein paar Monaten hatte ich ein Gespräch mit Miss Lucy. Und nachher ging es mir viel besser. Das ist schwer zu erklären. Aber sie sagte etwas, und auf einmal sah alles ganz anders aus.“
„Was hat sie denn gesagt?“„Tja… Das hört sich jetzt vielleicht komisch an. Aber es war auch für mich zuerst komisch. Sie hat Folgendes gesagt: Wenn ich nicht kreativ sein will, wenn mir wirklich nicht danach ist, dann ist das absolut in Ordnung. Das sei überhaupt nicht schlimm, hat sie gemeint.“„Das hat sie gesagt?“Tommy nickte, aber ich wandte mich bereits ab.
„Das ist doch Quatsch, Tommy. Wenn du blöde Spielchen machen willst – nicht mit mir.“
Ich war wirklich wütend, weil ich dachte, er mache sich über mich lustig, statt mich ins Vertrauen zu ziehen, wie ich es doch verdient hätte. Als ich ein paar Plätze hinter mir ein Mädchen entdeckte, das ich kannte, ließ ich Tommy stehen. Ich sah ihm an, dass er ratlos und niedergeschlagen war, aber nach den vielen Monaten, die ich mich um ihn gesorgt hatte, fühlte ich mich verraten, und es war mir egal, wie er sich nun fühlte.
Ich plauderte daher so angeregt wie möglich mit meiner Freundin – ich glaube, es war Matilda – und blickte während der restlichen Zeit des Anstellens kaum noch in seine Richtung.
Aber als ich mein Tablett zu den Tischen trug, tauchte Tommy hinter mir auf und sagte rasch:
„Kath, ich hab dich nicht auf den Arm genommen, wenn es das ist, was du denkst. Es ist wirklich so gewesen. Ich sag dir alles, aber du musst mir schon eine Chance geben.“
„Red doch keinen Mist, Tommy.“
„Kath, nach dem Essen bin ich unten am Teich. Wenn du hinkommst, erklär’ ich’s dir.“
Ich warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging wortlos davon, insgeheim aber wohl schon halb überzeugt, dass er sich die Geschichte über Miss Lucy nicht bloß ausgedacht hatte.
Und als ich mich zu meinen Freundinnen setzte, legte ich mir bereits einen Plan zurecht, wie ich mich nachher zum Teich davonstehlen konnte, ohne allgemeine Neugier zu wecken.
Kapitel 3
Der Teich befand sich auf der Südseite des Hauptgebäudes. Um dorthin zu gelangen, verließ man das Haus durch den Hinterausgang und folgte dem schmalen, gewundenen Pfad, auf dem man das wuchernde Farndickicht sogar noch im Frühherbst beiseite schieben musste. Wenn kein Aufseher in der Nähe war, konnte man den Weg auch durch das Rhabarberbeet abkürzen. Jedenfalls erwartete einen am Teich ein Idyll mit Enten, Binsen und Seerosen. Für Privatgespräche war es allerdings kein guter Platz – nicht annähernd so gut wie die Schlange vor der Essensausgabe. Zum einen war man vom Hauptgebäude aus deutlich zu sehen. Zum anderen ließ sich schwer vorhersagen, wie der Schall die Worte über das Wasser trug; wenn man lauschen wollte, war es das Einfachste, den äußeren Pfad entlangzugehen und sich im Gebüsch am gegenüberliegenden Teichufer zu verstecken. Aber nachdem ich diejenige war, die Tommy kurz zuvor in der Schlange hatte stehen lassen, musste ich mich jetzt wohl mit diesem Treffpunkt abfinden. Es war schon fast Mitte Oktober, aber ein sonniger Tag, und zur Not würde ich einfach behaupten, ich sei dort unten spazieren gegangen und hätte ihn dabei zufällig getroffen.
Vielleicht weil ich unbedingt diesen Eindruck aufrechterhalten wollte – obwohl ich keine Ahnung hatte, ob überhaupt jemand Notiz von mir nahm –, blieb ich stehen und nahm nicht Platz, als ich Tommy schließlich auf einem breiten flachen Stein nicht weit vom Ufer hocken sah. Es muss ein Wochenende gewesen sein oder ein Freitag, denn ich erinnere mich, dass wir keine Schuluniform trugen. Was er anhatte, weiß ich nicht mehr genau, wahrscheinlich eines der abgerissenen Fußballhemden, in denen er auch noch im Winter herumlief, ich jedenfalls trug den kastanienbraunen Trainingsanzug mit dem Reißverschluss vorn, erstanden auf einem Basar in Senior 1. Ich umrundete Tommy, so dass ich mit dem Rücken zum Wasser und mit dem Gesicht zum Haus stand. Falls uns jemand von einem Fenster aus beobachten sollte, würde ich es merken. Ein paar Minuten tauschten wir Belanglosigkeiten aus, als wäre vorhin bei der Essensausgabe nichts gewesen. Ich weiß nicht, ob wegen Tommy oder wegen irgendwelcher Zuschauer, jedenfalls gab ich mich betont beiläufig, irgendwann tat ich sogar so, als wollte ich weiterspazieren, aber als ich den Anflug von Verzweiflung in Tommys Gesicht las, tat es mir gleich wieder Leid, obwohl es ja nicht gegen ihn gerichtet war. Also sagte ich, als wäre es mir gerade erst wieder eingefallen:
„Was wolltest du mir übrigens vorhin erzählen? Über das, was Miss Lucy zu dir gesagt hat?“„Ach…“
Tommy blickte an mir vorbei auf den Teich, denn auch er wollte den Eindruck erwecken, als hätte er das Thema längst vergessen. „Miss Lucy. Ach, das.“
Von allen unseren Aufsehern in Hailsham war Lucy die sportlichste, auch wenn man es ihr kaum ansah: Sie war untersetzt, fast vierschrötig, und ihr spärliches schwarzes Haar wuchs, wenn es denn wuchs, aufwärts, so dass es niemals ihre Ohren oder ihren stämmigen Nacken bedeckte.
Tatsächlich aber war sie kräftig und ausdauernd, und auch als wir älter waren, hängte sie die meisten von uns, sogar die Jungen, beim Dauerlauf mühelos ab. Sie war eine erstklassige Hockey-Spielerin, und auf dem Fußballplatz hielt sie sogar mit den Senior-Schülern mit. Einmal sah ich, wie James B. ihr ein Bein zu stellen versuchte, als sie mit dem Ball an ihm vorbeirannte; wer aber zu Fall kam, war er selbst.