Liebesbriefe von der Front
Er starb im Krieg und hinterließ eine Frau, drei Kinder und 360 Briefe. Wie Gerda Patsch-Fesenmayr ihren Vater kennenlernte
Dasing „Es ist schrecklich, was glaubst du, was hier Blut fließt“, schrieb Johann Fesenmayr im Oktober 1943 aus Warschau an seine Frau Anna. Als Wachtmeister war der Dasinger nach den Aufständen im Warschauer Getto in der Stadt stationiert. In seinem Brief erzählt er von den Grausamkeiten, die ihm auf Warschaus Straßen begegnen, vom alltäglichen Leben und der Hoffnung, irgendwann sein „liebes Annelie“wiederzusehen.
Der Brief ist einer von 360, die sich das Ehepaar Fesenmayr während des Zweiten Weltkriegs schrieb. Aufbewahrt in zwei abgewetzten Kartons, liegen sie bei Tochter Gerda Patsch-Fesenmayr auf dem Wohnzimmertisch. Behutsam hält sie einen der Briefe in der Hand. „Mein Vater hat sie alle aufgehoben und mitgebracht, wenn er auf Heimaturlaub war“, so die 76-Jährige. Ihre Mutter, die sich zu Hause in Dasing um den Hof und die drei Kinder kümmerte, sammelte die Briefe in zwei kleinen Kisten. Darin enthalten sind auch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos des Vaters und Briefe von Bekannten. Sie reichen von 1937 bis 1945 und bilden ein spannendes Zeitzeugnis.
„Habe ich dir schon geschrieben von den vielen Juden? An dem Tag, wie wir hier angekommen sind, mussten alle Juden umziehen in das Stadtviertel über der Weichsel“, erzählt Johann in einem Brief vom März 1941 nach der Ankunft in Krakau, seinem ersten Einsatzort. Das Stadtviertel war das Krakauer Getto, in dem Tausende Juden erschossen oder von dort aus in Konzentrationslager nach Belzec und Auschwitz deportiert wurden. „Die haben alle weiße Armbinden mit ihrem Stern. Ihr solltet bloß die traurigen Gesichter sehen“, schrieb Johann weiter. Kurze Zeit später wurde er zum Wachdienst auf das Gut des Generalgouverneurs Hans Frank, der als „Judenschlächter von Krakau“in die Geschichte einging, berufen. Ein Jahr später im Juni schrieb er: „Liebes Annelie, oh, der Krieg ist etwas Schreckliches. Heute habe ich wieder Grauenhaftes erlebt (Judensache). Ich kenn mich nicht mehr aus. Gibt es noch Menschen oder nur mehr Viecher?“
Kurz darauf, im August 1942, kam der damals 38-Jährige zum Einsatz an die Front nach Russland. „Ein Dreck wie zum verzweifeln. Der Lehm wird so zäh, es reißt einem die Stiefel runter im Schützengraben. Das Wasser steht uns bis zum Knöchel. Es ist kein Wunder, dass so viele krank werden.“Er selbst zog sich eine Verletzung am Fuß zu und kam in ein Lazarett nach Riga. Von dort aus ging es 1943 zurück an die Front nach Tschechien, zum Wachdienst nach Warschau und nach einem kurzen Urlaub wieder an die Front in die Ukraine. „Der Krieg sollt’ halt endlich mal aus sein. Wir hoffen und vertrauen, dann geht’s schon. Ich muss mich so zusammennehmen, um alles zu ertragen“, schrieb Johann in einem Brief im Januar 1944. Es sollte sein letzter sein. Einen Monat später war er tot. Erschossen am 26. Februar 1944 in Sikun, einem kleinen Dorf in der Ukraine. Erst Wochen später erreichte die Familie die traurige Nachricht. Tochter Gerda war damals drei Jahre alt. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie meine Mutter mit der Nachricht vom Tod meines Vaters nach Hause kam“, sagt sie. „Es war furchtbar.“Doch für die Mutter endete das Schreiben damit nicht. In einem Büchlein verfasste Anna noch ein Jahr lang Briefe an ihren verstorbenen Mann. „Es ist Wahrheit geworden. Du, mein Allerliebster, du guter Papa, du unser Glück kehrst nie mehr zu uns zurück“, schrieb sie im April 1944. Erst ein Jahr später an Pfingsten 1945 enden ihre Aufzeichnungen: „Der schreckliche Krieg ist nun aus. [...] Für was und warum hat man so viele Opfer gegeben.“
Ihr Büchlein, die 360 Briefe und zahlreiche Fotos des Vaters überlebten. Patsch-Fesenmayr hielt die Sammlung erstmals nach dem Tod ihrer Mutter 1992 in den Händen. „Ich hatte vorher schon von der Schachtel unterm Bett gewusst“, erinnert sie sich. Ein Jahr später begab sich die Heimatkundlerin auf Spurensuche. Sie besuchte Krakau, fuhr nach Sikun, das Dörfchen, in dem ihr Vater erschossen wurde und besichtigte den Friedhof in Kowel. Sie sprach mit einheimische Zeitzeugen, stöberte in Archiven und sammelte alles, was sie über die Geschichte ihres Vaters finden konnte. „Ich war teilweise so ergriffen, dass ich fast flüchten musste“, erzählt die 76-Jährige. Nur um im darauffolgenden Jahr die Reise erneut anzutreten und weiter zu recherchieren.
„Ich mache das einfach gerne und es ist mir wichtig“, sagt Patsch-Fesenmayr. „Ich habe mich schon als Kind für Geschichte interessiert.“Die Vorsitzende des heimatkundlichen Vereins baute das Dasinger Archiv mit auf und wühlt immer wieder in der Vergangenheit, nicht nur in der eigenen. „Ich lese mich oft so ein, dass ich meine, die Leute aus Dasing auch von 1750 alle persönlich zu kennen“, sagt sie schmunzelnd. Mit alten Kriminalfällen beschäftige sie sich auch gern.
Die Sütterlinschrift, in der die Briefe ihrer Eltern verfasst sind, hat sie sich selbst zu lesen beigebracht. Vor einigen Jahren ließ sie alle 360 Briefe in einem gesammelten Band in 40 Exemplaren drucken. „Ich habe das vor allem für meine Kinder getan“, sagt Patsch-Fesenmayr.
Um einen Teil der Briefe öffentlich zu machen, stellte sie nun eine DVD zusammen. Untermalt mit Schwarz-Weiß-Fotos vom Einsatz ihres Vaters, liest die 76-Jährige Auszüge aus den Briefen vor. Drei Monate hat sie gebraucht, um die wichtigsten Stellen herauszufiltern und einzusprechen. Die DVD wird zukünftig über die Archive in Dasing, Aichach und Friedberg zugänglich sein. „Mir ist es wichtig, dass gerade die junge Generation die Geschichte in Erinnerung behält“, sagt sie. „Wenn ich einen kleinen Teil dazu beitragen kann, ist schon etwas gewonnen.“
„Ihr solltet bloß die traurigen Gesichter sehen.“Johann Fesenmayr
„Für was und warum hat man so viele Opfer gegeben.“Anna Fesenmayr