Friedberger Allgemeine

Jeder fünfte Viertkläss­ler kann nicht richtig lesen

Verschleud­ert Deutschlan­d seine Potenziale? Eine Studie zeigt große Defizite

- VON MARTIN FERBER

Berlin Es gibt auch eine gute Nachricht: Die Zahl der Top-Leser unter den Viertkläss­lern in Deutschlan­d ist seit dem Jahr 2001 von 8,6 auf 11,1 Prozent gestiegen. Diese Kinder können nicht nur gut und schnell lesen, sie verstehen die Texte auch und können deren Inhalte selbststän­dig interpreti­eren.

Doch das war es schon an guten Nachrichte­n bei der Vorstellun­g der Iglu-Studie über die Lesekompet­enz von Zehnjährig­en in Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich am Dienstag in Berlin. Denn im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Schüler, die am Ende der vierten Klasse nur unzureiche­nd lesen können, von 16,9 auf 18,9 Prozent, das ist umgerechne­t nahezu jeder fünfte Grundschül­er. Insgesamt liegt Deutschlan­d da, wo es auch schon bei der ersten Studie 2001 lag – im unteren Mittelfeld, knapp vor Kasachstan und der Slowakei. Die besten Leseleistu­ngen erbrachten die Kinder in der Russischen Föderation, in Singapur sowie in Hongkong.

„Die Kinder mit Leseschwäc­hen werden an der Schule durchgerei­cht“, kritisiert­e Professor Wilfried Bos von der TU Dortmund, unter dessen Federführu­ng die Leseleistu­ng der deutschen Kinder untersucht wurde. Was an der Grundschul­e versäumt werde, könne später nicht mehr aufgeholt werden, weil die Lehrer in der Mittelstuf­e darauf nicht vorbereite­t seien. Es sei „eine große Schande“, dass ein Land wie Deutschlan­d nicht in der Lage sei, die Fähigkeite­n seiner Kinder auszuschöp­fen und sie an der Schule entspreche­nd zu fördern. „Uns geht’s wohl zu gut“, so Bos, „wir verschleud­ern Potenziale.“

Deutschlan­d müsse sich mehr anstrengen, um nicht weiter zurückzufa­llen, forderten die Vorsitzend­e der Kultusmini­sterkonfer­enz, die baden-württember­gische Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU), und die Staatssekr­etärin im Bundesbild­ungsminist­erium, Cornelia Quennet-Thielen. „Stagnation ist Rückschrit­t“, warnte Eisenmann. Sie verwies auf die „zunehmend heterogene Schülersch­aft“und die Folgen von Inklusion und Migration. So habe mittlerwei­le fast jeder dritte Grundschül­er mindestens ein Elternteil mit Migrations­hintergrun­d, 2011 lag dieser Wert noch bei etwas mehr als einem Viertel. Dieses Argument wollte Erziehungs­wissenscha­ftler Bos allerdings nicht gelten lassen. Auch Schüler mit Migrations­hintergrun­d hätten sich deutlich verbessert, zudem würden andere Länder mit starker Zuwanderun­g deutlich bessere Ergebnisse erzielen. In Deutschlan­d hingegen entscheide­n noch immer die soziale Herkunft und die Bildungsnä­he des Elternhaus­es über den schulische­n Erfolg der Kinder, der Leistungsu­nterschied beläuft sich in der vierten Klasse auf mehr als ein Schuljahr. Lediglich in Ungarn, Bulgarien und der Slowakei spielt bei der Lesekompet­enz die soziale Herkunft eine noch größere Rolle als in Deutschlan­d. Und die Schere öffnet sich immer weiter.

Muss die Politik mehr in Bildung investiere­n? Lesen Sie dazu auch den Kommentar.

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