„Nicht der Gipfel ist das Ziel“
Als erste Frau hat Gerlinde Kaltenbrunner alle 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff bestiegen. Bei einem Besuch in Friedberg erzählt sie von Glück und Stress am Berg und gibt Tipps für schwierige Situationen
Sie standen auf den höchsten Bergen der Erde. Wie war die Aussicht? Kaltenbrunner: Atemberaubend. Die Sterne sind zum Greifen nah und so hell, dass man seinen eigenen Schatten sieht. Es herrscht Totenstille.
Was geht Ihnen als Erstes durch den Kopf, wenn Sie am Gipfel sind? Kaltenbrunner: Ein tiefes Danke, dass ich da oben stehen darf. Denn es ist nie selbstverständlich und ich sehe es immer als ein großes Geschenk an, so tiefe Momente erleben zu dürfen.
Was fasziniert Sie neben der Aussicht? Kaltenbrunner: Die Tatsache, sich auf das Nötigste zu reduzieren und trotzdem ein so großes Ziel erreichen zu können. Jeder kennt das befreiende Gefühl, zu Hause zu entrümpeln. Am Berg ist das genauso. Zu viel zu haben, bedeutet Ballast. Im Basislager gibt es keinerlei Luxus. Es ist wichtig, dass einem warm ist, dass man zu essen hat und dass es schmeckt, was in großen Höhen nicht selbstverständlich ist, da der Appetit nachlässt. All die scheinbaren Entbehrungen sind eine Bereicherung.
Was sagen Ihre Familie und Freunde zu ihrer Berufswahl? Kaltenbrunner: Sie sind es mittlerweile gewöhnt, dass ich immer wieder aufbreche. Aber es hat gedauert, bis sie es annehmen konnten. Sie haben sich große Sorgen gemacht. Die wurden erst weniger, als sie merkten, dass ich auch kurz vor dem Ziel umdrehen kann, wenn mir das Risiko zu groß ist.
Für die Besteigung des K2 haben Sie sieben Anläufe gebraucht. Woher wissen Sie, wann es Zeit ist, umzudrehen? Kaltenbrunner: Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern die gesunde Rückkehr. Ich muss mir meine Kräfte so einteilen, dass ich gut zurückkomme. Das hat oberste Priorität, sonst würde ich jetzt nicht mehr hier sitzen. Dafür ist es wichtig, in den Körper hinein zu spüren und auf die Signale zu hören. Die Grenze ist individuell, verläuft jeden Tag woanders und hängt stark von der körperlichen und mentalen Verfassung ab. Aber ich darf sie nicht überschreiten. Dafür muss ich mich selbst, meine Kollegen und die Verhältnisse am Berg immer im Blick haben.
Wie meistern Sie schwierige Situationen? Kaltenbrunner: Das Allerwichtigste, egal, wie ausweglos die Situation erscheint, ist es, tief einzuatmen und Ruhe zu bewahren. Alles andere kostet nur Energie. Man sollte versuchen, sich emotional aus dem negativen Gedankenkreis herauszunehmen und sich dem Positiven zuzuwenden. Man hat die Freiheit dazu und es ist nach meiner Erfahrung das Einzige, was in dem Moment hilft.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um? Kaltenbrunner: Meine großen Erfolge haben mich auf das Leben gesehen nicht weitergebracht. Gewachsen bin ich an den schwierigen Momenten. Eine Tour abzubrechen, habe ich nie als Rückschlag erlebt. Aber als mein Freund Fredrik Ericsson abstürzte, hatte ich das Gefühl, gescheitert zu sein. Ich musste lernen, dieses tragische Geschehen zu verarbeiten und anzunehmen. Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ich habe versucht, es in mein Leben zu integrieren und nach vorne zu schauen. Auch am Berg hilft es nichts, zurückzublicken.
Haben Sie ein neues Ziel vor Augen? Kaltenbrunner: Höhere Ziele gibt es nicht mehr. Ich bin gerade von einer Sechstausender-Expedition aus Nepal zurück. Jetzt sind die Berge niedriger, aber nicht minder schön. Sind Sie noch ab und zu in den Alpen unterwegs?
Kaltenbrunner: Natürlich. In der Heimat gibt es Berge, die mich in der Kindheit geprägt haben und auf die ich bis ins hohe Alter gerne raufsteigen werde, beispielsweise der Kleine und Große Priel im Toten Gebirge. Und trotz der vielen Menschen bin ich gerne am Großglockner. Auch da gibt es Zeiten, in denen kaum jemand unterwegs ist, oder Anstiege, die keiner nutzt.
Ist das für Sie dann eher ein Spaziergang als eine Bergtour? Kaltenbrunner: Einen Spaziergang möchte ich das nicht nennen. Gerade auf den kleinen Bergen läuft man Gefahr, unachtsam zu werden. Ich versuche, an jeden Berg mit Respekt heranzutreten. Niemand ist gefeit davor, dass etwas passiert, deshalb gilt auch bei uns in den Bergen höchste Vorsicht.
Worauf sollte man achten, wenn man unterwegs ist?
Kaltenbrunner: Wichtig ist, dass man sich realistische Ziele setzt und sich nicht überschätzt. Es hilft nichts, zu denken, man müsse auf Biegen und Brechen den Gipfel erreichen. Stattdessen sollte man mit einkalkulieren, dass es vielleicht nicht mehr geht, und dann rechtzeitig umkehren.
Was ist bei der Vorbereitung einer längeren Tour wichtig?
Kaltenbrunner: Man sollte so planen und losstarten, dass man sich gut fühlt. Das beginnt mit der passenden Ausrüstung und dem Einholen des Wetterberichts und der aktuellen Lawinensituation. Außerdem sollten Kontaktpersonen für den Notfall Bescheid wissen, wo man unterwegs ist. Aber es gilt auch, in sich hineinzuhören und zu fragen, ob man körperlich und mental fit genug ist, um das Ziel zu erreichen.
Wie halten Sie sich selbst fit? Kaltenbrunner: Ich trainiere querbeet. Im Winter mache ich viele Skitouren, im Sommer bin ich gerne mit dem Mountainbike unterwegs oder gehe schwimmen. Aber auch ein Klettersteig mit Freunden macht Spaß. Außerdem meditiere ich. Interview: Felicitas Lachmayr
Foto: Ralf Dujmovits