Der Zauber des Zuhörens
Sonntagmorgen auf der Autobahn. Aus dem Radio tönt das Anfangskapitel aus Salman Rushdies neuem Roman „Golden House“, vor dem Auge verwandelt sich die schwäbische Landschaft ins New Yorker Greenwich Village und gleich ist man mittendrin in dieser fantastischen Geschichte um den „indischen Paten“Nero Golden und seine vier Söhne. Eine halbe Stunde später steigt man mit dem festen Vorsatz aus dem Auto, demnächst Rushdie zu lesen.
Sonntag, später Nachmittag, wieder große Literatur im Radio, diesmal winterliche Szenen aus Tolstois „Anna Karenina“und Jack Londons „Ruf der Wildnis“und wieder weiß man, durch welche Bücher man demnächst schmökern möchte.
Nein, dies soll jetzt keine Eloge auf das Radiohören werden. Aber auf die betörende Wirkung des Vorlesens. Dass dies die Begeisterung fürs Selberlesen weckt, weiß man aus vielen Studien zur kindlichen Leseförderung. Ganz abgesehen davon erliegt man aber auch als Erwachsener dem besonderen Reiz, sich einen Text ins Ohr gehen zu lassen, sich in dieser verschworenen Gemeinschaft zwischen Autor, Sprecher und Zuhörer einzurichten.
Deshalb ist dies gleichzeitig auch ein Abgesang auf eine Augsburger Veranstaltungsreihe, die genau diesen Zauber des Vorlesens kultivierte: die „Vorleserei“im Ballettsaal im Kulturhaus Abraxas. Ein knappes Jahr lang pflegten der ehemalige Buchhändler Albert Schmid und seine drei Mitstreiter diesen Brauch, doch mit der Zeit ebbte das Publikumsinteresse ab. Während die Veranstaltung in Schwabmünchen über viele Jahre sehr großen Erfolg hatte, wollten sich die Augsburger offenbar nicht darauf einlassen. Wie schade!
*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolumne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefallen ist.