Architektur zum Anbeißen
Knusper, knusper, Knäuschen: Im Altstadtcafé backen Konditorengesellen Lebkuchenhäuser nach märchenhaften Vorbildern. Warum der Teig schnurren muss
Friedberg Eine Debatte über Architektur wäre hier fehl am Platz. Bauherr Willi Weißgerber weiß, wie man ein Lebkuchenhaus nach traditionellen Werten formt: nicht reduziert oder puristisch, sondern mit Schnörkeln und vielen, sehr vielen Details. Jedes Jahr zur Adventszeit verwandelt sich seine gläserne Backstube in eine Weihnachtskonditorei. Neben Schokonikoläusen gibt es in seiner Stube Stollen und Gebäck zu entdecken – und eine Vielzahl an Honigkuchenhäusern. Etwa 30 Stück kleben, dekorieren und verkaufen die Mitarbeiter des Altstadtcafés pro Saison.
Das märchenhafte Produkt aus Hänsel und Gretel scheint aufwendig – doch ist es bei Weitem kein Hexenwerk, weiß Willi Weißgerber. Ein Exemplar besteht aus sieben Einzelteilen, die aus Honigkuchenteig gefertigt und damit essbar sind. „Das Rezept stammt von meinem Lehrherrn“, erzählt der Konditor und Gastronom. Auch benö- tigt man eine sogenannte Eiweißspritzglasur, um die einzelnen Teile zusammenbauen zu können.
In der fünften Generation ist seine Familie im Bäcker- und Konditorenhandwerk verwurzelt – seit 1998 in Friedberg. „Das war die einzig richtige Entscheidung“, freut sich Willi Weißgerber über die Filialeröffnung in der Herzogstadt. „Wir dürfen hier so ticken, wie wir ticken.“
Für das Altstadtcafé bedeutet das zum Beispiel, alles – angefangen bei der Schnitzelpanade bis hin zur klassischen Pralinen-Ganache – selbst zu produzieren. Oder wie Willi Weißgerber formuliert: „Nicht einfach Tütle auf und Wasser dazu. Wir schlagen den Wiener Biskuit immer noch mit frischem Ei im Kupferkessel auf, wir ziehen Vanillecreme immer noch selbst ab und überziehen die Himbeeren mit einem pflanzlichen Geliermittel.“So verfahren seine Konditorengesellen auch mit dem Honiglebkuchen. Alle Zutaten seien rein natürlich, meint der Chef. „Das Chemischste daran ist das Backpulver.“Und streng genommen ist das keine Chemie.
Gebacken und in Form gebracht geht es an die zauberhafte Verzierung des Hexenhäuschens. „Dafür eignen sich alle Schleckereien, die man früher als traditionelle Weihnachtsbonbons gehabt hat“, so der 46-Jährige. Dazu kommt das Eiweiß zum Ausgarnieren und natürlich die Hexenfamilie, die das Häuschen bewohnen soll. Mit allem Drum und Dran sind Weißgerbers Mitarbeiter zwei Stunden lang mit der Verarbeitung von fünf Exemplaren beschäftigt.
Obwohl die Zahl der Arbeitsschritte überschaubar bleibt, setzt das Kreieren von Lebkuchenhäusern Geschicklichkeit voraus. Neben einem geübten Gaumen zum Abschmecken ist Gefühl für den „schnurrenden“Teig gefragt. Der Experte erklärt: „Vor dem Backen schrumpft der Teig in der Regel etwas zusammen. Das nennt sich schnurren“, sagt er lachend. Beim Ausgarnieren sei zudem ein gutes Auge unumgänglich. „Ganz klar“, so der Inhaber. „Bei der Dekoration darf man nicht über-, aber auch nicht untertreiben.“Ohnehin liege darin das Geheimnis der Konditorenausbildung: „Viel kann man lernen, die letzten 20 Prozent sind einem gegeben.“Oder eben nicht.
Das Altstadtcafé versorgt Friedberg nicht nur mit süßen Sünden und Skepsis bei der morgendlichen Gewichtskontrolle. Es verfolgt auch eine wichtige soziale Aufgabe. „Wir haben viele ältere Damen, die ihre Tasse Kaffee auch daheim trinken könnten“, sagt der Inhaber. „Die kommen bei uns zur Tür herein, werden begrüßt, wir fragen sie, wie es ihnen geht.“Sollten die Senioren einige Tage fehlen, dann ruft Willi Weißgerber dort an. Nicht wegen der Tasse Kaffee. „Wir machen uns ja Sorgen“, so der Gastronom weiter. Er selbst nennt das den „Wiener KaffeehausSchmäh“: Da gehöre es dazu, dass sich die Oma hinsetzt und erzählt, wie schlecht es ihrem Dackel geht, findet er.
Die Vorweihnachtszeit bedeutet für Willi Weißgerber und seine Familie vor allem eines: Stress – zumal sich ein Großteil der Arbeit hinter den Kulissen abspiele. „Ich kenne es nicht anders. Meine Frau kennt es nicht anders. Meine Kinder kennen es nicht anders“, bekräftigt er. Doch dieses Jahr hält das Altstadtcafé seine Pforten an Heiligabend geschlossen. „Es lohnt sich nicht, den Dampfer für zwei Stunden an einem Sonntag hochzufahren.“Die Belegschaft freut’s. „Sie geben ja alle 120 Prozent“, lobt der Chef. Also wird zunächst einmal ausgeschlafen. Danach ruft die „Weißgerberei“– so nennt der Kaffeehausbetreiber seine Verwandtschaft. Er grinst.