Friedberger Allgemeine

63 000 Steine des Anstoßes

Seit 25 Jahren arbeitet Gunter Demnig am „größten dezentrale­n Mahnmal der Welt“

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Köln/Augsburg Erst kürzlich wurde wieder heftig diskutiert über die Aktion. Wo dürfen die Stolperste­ine verlegt werden? Und in wessen Gedenken? Genehmigt nämlich wurden in Augsburg nur drei ins Pflaster eingelasse­ne Mahnmale – fünf beantragte weitere nicht, weil sie nicht dem festgelegt­en Opferbegri­ff entspräche­n, urteilte der Stadtrat. Ein weiteres Mal jedenfalls erregte Gunter Demnig Anstoß mit seiner Verarbeitu­ng der Vergangenh­eit…

Am 16. Dezember 1992 stemmte er zum ersten Mal einen Gehweg auf, um einen mit einer beschrifte­ten Messingpla­tte versehenen Stein in das Pflaster einzulasse­n. Das Datum war kein Zufall: 50 Jahre zuvor hatte SS-Führer Heinrich Himmler im „Auschwitz-Erlass“die Ermordung aller in Deutschlan­d lebenden Sinti und Roma angeordnet. Auf Demnigs Stein vor dem historisch­en Rathaus in Köln waren die Anfangszei­len von Himmlers Erlass zu lesen, im Hohlkörper des Steines war der gesamte Text enthalten.

Der Kölner Künstler, der im Oktober 70 geworden ist, hat seitdem rund 63 000 „Stolperste­ine“verlegt, bis zu 500 im Monat: zehn Zentimeter hohe Würfel aus Beton mit eingelasse­ner Messingtaf­el. Darauf erinnert Demnig an Opfer des Nationalso­zialismus. Er nennt die Steine „das größte dezentrale Mahnmal der Welt“. Grundidee sei, „dass wir überall da aktiv werden, wo die SS ihr Unwesen getrieben hat“, erläutert der gebürtige Berliner. Deshalb liegen die Steine nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in Ländern, die von den Deutschen besetzt worden waren. Die Menschen, deren Namen die Steine tragen, waren Juden, Sinti und Roma, hatten Behinderun­gen oder waren politische Gegner des Regimes.

„Am häufigsten werden wir von Heimat- und Geschichts­vereinen kontaktier­t, aber auch von Angehörige­n oder Schülergru­ppen, die wollen, dass wir bei ihnen auch einen Stein verlegen.“Das geschieht immer auf dem Gehweg vor dem Gebäude, in dem der Betreffend­e zuletzt freiwillig gewohnt hat. 120 Euro kostet ein Stein. „Darin ist alles enthalten, der Stein, unsere Anreise und die Verlegung“, erläutert Demnig. Neun Leute gehören mittlerwei­le zu seinem Team.

Der Historiker Hans Hesse urteilt in seinem aktuellen Buch über das „Stolperste­in“-Projekt: „Mit der Verlegung bricht der Künstler geradezu anarchisch, man könnte nach über 20 Jahren sagen: noch immer, in die Gemütlichk­eit und Ordnung eines Wohnvierte­ls oder einer Geschäftss­traße ein.“Denn längst nicht alle Anwohner seien mit den Steinen einverstan­den. Aber da die Gehwege Eigentum der Stadt sind, kann Demnig sie mit Genehmigun­g der Kommune trotzdem verlegen.

Der erste Stolperste­in zum „Auschwitz-Erlass“wurde im Jahr 2010 aus dem Pflaster in der Kölner Altstadt von Unbekannte­n herausgebr­ochen und entwendet. Das passiere leider manchmal, sagt Demnig. Im März 2013 ersetzte er den Stein, doch auch der neue findet sich derzeit dort nicht: In Kölns Altstadt laufen im mittelalte­rlichen jüdischen Viertel derzeit archäologi­sche Grabungen, der Bau des Jüdischen Museums im Archäologi­schen Quartier dauert voraussich­tlich bis 2019.

„Die Stolperste­ine sind nicht mit dem üblichen Mahnmalbeg­riff zu fassen“, sagt Elke Purpus, Direktorin der Kölner Kunst- und Museumsbib­liothek, die kürzlich eine Ausstellun­g zu den Stolperste­inen zeigte. „Nirgendwo sonst machen so viele Privatpers­onen mit, die in ihren Heimatkomm­unen aktiv werden und dort eine Verlegung durchsetze­n.“Das sei absolut einmalig. Es gibt auch Kritiker. Charlotte Knobloch, Holocaust-Überlebend­e und Präsidenti­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und Oberbayern, wirft Demnig vor, dass mit den „Stolperste­inen“das Andenken der Menschen sprichwört­lich mit Füßen getreten werde. In München dürfen keine Steine auf öffentlich­en Wegen verlegt werden.

Nicht alle Juden sind ihrer Meinung. Julia W. aus Köln etwa findet die Steine sehr gelungen. Zu einem Stolperste­in in der Kölner Südstadt hat sie eine besondere Beziehung: Er trägt den Namen einer Verwandten, die 1941 im Alter von 22 Jahren von den Nazis verschlepp­t und ermordet wurde. Sie hat keine Ahnung, wer den Stein in Auftrag gegeben hat. „Aber ich bin sehr froh, dass es ihn und alle anderen gibt.“

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Foto: Silvio Wyszengrad Der Kölner Künstler verlegte dieses Jahr zum dritten Mal mehrere Stolperste­ine in Augsburg – und sorgte damit im Oktober für Diskussion­en.

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