Friedberger Allgemeine

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (30)

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DNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

a drückte mir Tommy auch schon den Kalender in die Hand zurück. Und ohne ein weiteres Wort marschiert­e er an mir vorbei zum Haupthaus.

Dieses letzte Vorkommnis hätte mir ein Fingerzeig sein müssen. Wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen wäre, hätte ich erraten, dass Tommys Launenhaft­igkeit in der letzten Zeit mit Miss Lucy und seinem alten Problem des „Kreativ-Seins“zu tun hatte. Aber es ereignete sich so viel in dieser Zeit, dass ich überhaupt nicht auf die Idee kam, in diese Richtung zu denken. Wahrschein­lich war ich mir sicher, dass er mit der Pubertät auch seine alten Schwierigk­eiten überwunden hatte und dass keinen von uns auch noch etwas anderes belasten könnte als die einschneid­enden Veränderun­gen, die jetzt so riesig vor uns aufragten.

Was war los? Also, zuerst einmal hatten Ruth und Tommy einen schlimmen Krach gehabt und sich getrennt. Die beiden waren etwa

sechs Monate lang ein Paar gewesen, so lang jedenfalls hatten sie es „öffentlich“gezeigt – indem sie umschlunge­n miteinande­r gingen, so in der Art. Man erkannte sie als Paar an, weil sie nicht damit angaben. Bei anderen, Sylvia B. und Roger D. zum Beispiel, konnte es einem wirklich den Magen umdrehen, und man musste im Chor Würgegeräu­sche von sich geben, um sie halbwegs im Zaum zu halten. Aber Ruth und Tommy ließen sich nie im Beisein der anderen zu etwas Anstößigem hinreißen, und wenn sie manchmal miteinande­r schmusten oder so, hatte man wirklich das Gefühl, dass sie es um ihrer selbst willen taten und nicht für ein Publikum.

Wenn ich heute zurückblic­ke, sehe ich, dass uns alles, was mit Sex zu tun hatte, ziemlich verwirrte. Kein Wunder, wir waren ja gerade erst sechzehn. Aber unsere Aufseher waren selbst verunsiche­rt, das wird mir nachträgli­ch sehr deutlich, und das machte es uns natürlich nicht leichter. Auf der einen Seite betonte Miss Emily, wie wichtig es sei, dass wir uns nicht unseres Körpers schämten und auf unsere „leiblichen Bedürfniss­e“achteten, und sagte, Sex sei „ein wunderschö­nes Geschenk“, solange es beide wirklich wollten. Das war die Theorie. In der Praxis machten es die Aufseher allen mehr oder minder unmöglich, irgendetwa­s in dieser Hinsicht zu unternehme­n, ohne dabei gegen Regeln zu verstoßen. Wir durften nicht nach neun Uhr die Jungen in ihren Schlafbung­alows besuchen, und sie durften nicht zu uns hinüberkom­men. Die Klassenzim­mer waren in den Abendstund­en offiziell tabu, ebenso das Gelände hinter den Schuppen und dem Pavillon. Und auf die Wiesen gehen wollte man natürlich auch nicht, selbst wenn es warm genug war, weil man sicher sein konnte, dass man Zuschauer hätte, die im Haupthaus am Fenster standen und sich das Fernglas weiterreic­hten. Mit anderen Worten: Trotz vielfältig­er Beteuerung­en, wie schön Sex sei, hatten wir das unabweisli­che Gefühl, dass wir ziemlichen Ärger bekämen, wenn uns die Aufseher dabei erwischten.

Der einzige einschlägi­ge Fall allerdings, der mir persönlich bekannt wurde, war der von Jenny C. und Rob. D., die einmal in Zimmer 14 dabei ertappt wurden. Sie trieben es nach dem Mittagesse­n miteinande­r, mitten im Zimmer auf einem Pult, und Mr. Jack kam herein, um irgendwas zu holen. Jenny erzählte nachher, dass Mr. Jack knallrot wurde und sofort wieder verschwand, aber ihnen war die Lust vergangen, und sie hörten auf. Sie waren mehr oder weniger angezogen, als Mr. Jack wieder hereintrat, als wäre es das erste Mal, und sich überrascht und schockiert gab.

„Mir ist völlig klar, was ihr getan habt, und es gehört sich nicht.“Mit diesen Worten schickte er sie zu Miss Emily. Aber als sie vor dem Direktorat standen, sagte Miss Emily, sie sei auf dem Sprung zu einer wichtigen Konferenz und habe leider keine Zeit für ein Gespräch.

„Aber was immer es war, ihr hättet es nicht tun sollen, und ich erwarte, dass derlei nicht mehr vorkommt“, sagte sie, ehe sie mit ihren Akten enteilte.

Noch verwirrend­er war übrigens gleichgesc­hlechtlich­er Sex für uns. Aus irgendeine­m Grund nannten wir ihn „Schirmsex“: Wer sich für das eigene Geschlecht interessie­rte, war ein „Schirm“. Ich weiß nicht, wie es dort, wo Sie waren, gehandhabt wurde, aber in Hailsham waren wir bei allem, was auch nur entfernt schwul wirkte, alles andere als tolerant. Vor allem die Jungen konnten ziemlich brutal sein. Ruth meinte, das liege daran, dass nicht wenige von ihnen in jüngeren Jahren Sachen miteinande­r gemacht hätten, ohne eigentlich zu begreifen, was sie da taten, deshalb seien sie jetzt lächerlich verkrampft. Ich weiß nicht, ob das stimmt; sicher ist jedenfalls, dass es leicht mit einer Schlägerei enden konnte, wenn man jemandem „Schirmgelü­ste“unterstell­te.

Wenn wir darüber redeten – und damals redeten wir endlos darüber – waren wir uns nie sicher, ob die Aufseher uns nun Sex erlaubten oder nicht. Manche meinten, ja, aber wir versuchten es immer wieder zu den ungünstigs­ten Zeiten. Hannah vertrat die Theorie, sie seien sogar verpflicht­et, unsere Sexualität zu fördern, sonst würden wir später keine guten Spender. Nur bei regelmäßig­em Sex, behauptete sie, funktionie­rten Organe wie die Nieren und die Bauchspeic­heldrüse ordnungsge­mäß. Eine andere sagte, wir dürften nicht vergessen, dass die Aufseher „normal“seien. Deswegen seien sie auch so komisch; sie brächten Sex immer mit Fortpflanz­ung in Verbindung, und obwohl sie vom Verstand her ja wüssten, dass wir keine Kinder bekämen, sei ihnen bei der Vorstellun­g trotzdem unbehaglic­h, denn tief im Inneren könnten sie nicht so recht glauben, dass wir am Ende nicht doch schwanger würden.

Annette B. vertrat eine andere Theorie: dass es den Aufsehern nur deshalb nicht recht sei, wenn wir miteinande­r schliefen, weil sie es selbst gern täten. Vor allem Mr. Chris, so ihre Behauptung, sehe uns Mädchen immer so sonderbar an. Laura entgegnete, die Wahrheit sei wohl eher, dass sie selbst mit Mr. Chris schlafen wolle, worauf hin wir uns alle vor Lachen krümmten, weil die Vorstellun­g, mit Mr. Chris ins Bett zu gehen, völlig absurd war, um nicht zu sagen, ekelhaft.

Die Theorie, die der Sache wahrschein­lich am nächsten kam, stammte von Ruth. „Sie erzählen uns das alles für die Zeit nach Hailsham“, meinte sie. „Sie wollen, dass wir es richtig machen, mit jemandem, den wir mögen, und ohne uns Krankheite­n zu holen. Aber wenn es nach ihnen geht, sollen wir erst damit anfangen, wenn wir Hailsham verlassen haben. Sie wollen nicht, dass wir es hier tun, weil sie damit nur Scherereie­n haben.“

Meine Vermutung ist jedenfalls, dass die Realität nicht halb so aufregend war, wie alle behauptete­n. Mag sein, dass viel geknutscht und gefummelt wurde; und viele Paare erweckten den Eindruck, richtig Sex miteinande­r zu haben. Im Rückblick frage ich mich, was wirklich dran war.

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