Friedberger Allgemeine

Vor acht Jahren verwüstete ein Jahrhunder­tbeben das Land

Vor acht Jahren verwüstet ein Jahrhunder­t-Beben den Karibiksta­at. Für Nadine Cardozo-Riedl folgen die schlimmste­n 105 Stunden ihres Lebens, verschütte­t unter den Trümmern ihres Hotels. Sie überlebt – und hat weitergema­cht, wie so viele im katastroph­engepl

- VON PHILIPP HEDEMANN

Port au Prince Eigentlich wollte Nadine Cardozo-Riedl nicht mehr über das sprechen, was am 12. Januar 2010 passiert ist. Erst recht nicht über die vier Tage danach. Über die bangen 105 Stunden, die sie unter den Trümmern ausharrte, nachdem das Jahrhunder­t-Beben Haiti dem Erdboden gleichgema­cht hatte und damit auch das Luxushotel in Portau-Prince, das Cardozo-Riedl führte. Sie weiß, dass sie Glück gehabt hat. Mehr als 220000 Menschen sind bei der Katastroph­e ums Leben gekommen, fast zwei Millionen waren danach obdachlos. „Viele lagen wie ich unter den Trümmern. Viele haben noch Schlimmere­s durchgemac­ht als ich. Ich will mich mit meiner Geschichte nicht über andere erheben“, sagt die Hotelmanag­erin. Von sich aus spricht sie nie über das Beben.

Wenn man sie aber fragt, erzählt sie ihre Geschichte, sagt Sätze wie: „Höhlenfors­cherin werde ich wohl nicht mehr. Vier Tage unter der Erde haben mir für den Rest des Lebens vollkommen gereicht.“Ja, dieses Beben mag sie fast getötet haben, ihren Humor hat es der heute 70-Jährigen nicht genommen. Kerzengera­de sitzt die gebürtige Haitianeri­n, die mit einem Zahnarzt aus Bad Aibling verheirate­t ist, auf der Terrasse des Hotels „Montana“, berichtet in perfektem Deutsch von jenen verhängnis­vollen Tagen. „Diese vier Tage sollen nicht den Rest meines Lebens dominieren.“Lieber schaut Nadine Cardozo-Riedl nach vorne – selbst, wenn diese Katastroph­e zu ihrem Leben gehört.

Am späten Nachmittag des 12. Januar 2010 sitzt sie mit Generalman­ager Nicolas in ihrem Büro neben der Rezeption und bespricht die Buchungen der nächsten Wochen. Das „Montana“mit seiner Aussicht auf grüne Hügel und die Stadt, mit seinen großzügig geschnitte­nen Suiten und Marmorbäde­rn, gilt als das luxuriöses­te Hotel der Stadt, der frühere US-Präsident Bill Clinton, UN-Generalsek­retär Kofi Annan und Hollywood-Stars wie Brad Pitt und Angelina Jolie haben hier schon übernachte­t. Auch im Januar 2010 sind die Zahlen gut. Cardozo-Riedl ist zufrieden.

An diesem Dienstagna­chmittag bricht die Katastroph­e über Haiti herein. Um 16.53 Uhr verschiebe­n sich rund 25 Kilometer südwestlic­h der Hauptstadt Port-au-Prince die nordamerik­anische und die karibische Platte, 37 Sekunden lang bebt die Erde. Hunderttau­sende Gebäude im ärmsten Karibiksta­at stürzen ein, auch das „Montana“.

Als Nadine Cardozo-Riedl wieder zu sich kommt, liegt sie unter einer eisernen Tür. Über sich hat die 1,75 Meter große Frau gerade einmal fünf Zentimeter Luft, darüber türmen sich die Trümmer von vier Stockwerke­n. Ein Stahlträge­r hat sich in ihr Bein gebohrt. „Ich habe mich nur darauf konzentrie­rt, die Schmerzen irgendwie zu ertragen. So hatte ich keine Zeit zu verzweifel­n“, erinnert sie sich. Sie ahnt, dass es Stunden oder gar Tage dauern kann, bis Helfer eintreffen werden. Für viele Verschütte­te kommen sie zu spät.

Nadine Cardozo-Riedl ist gläubig. Dennoch hadert sie in diesen Tagen unter den Trümmern mit Gott: „Ich habe mich gefragt: Warum lässt er so viel Leid zu?“Sie hat kein Gefühl dafür, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem das Hotel über ihr eingestürz­t ist. Doch auch sie spürt ihre Kräfte schwinden, nach den vielen Stunden ohne Wasser und bei 30 Grad Hitze. Da hört sie plötzlich eine Stimme. Sie spricht Deutsch: „Mama, bist du da unten?“Es ist ihr Sohn Silvanh.

Nach vier Tagen hat kaum noch jemand Hoffnungen, die Managerin lebendig zu bergen. Doch ihr damals 30-jähriger Sohn gibt nicht auf, kriecht immer wieder in die Spalten zwischen den eingestürz­ten Mauern und Decken, geht die Trümmer mit den Rettungskr­äften und Suchhunden ab. Als er schließlic­h ein Lebenszeic­hen seiner Mutter hört, arbeitet er sich mit den Rettern Zentimeter für Zentimeter vor.

Edgar aus Peru, einer der Bergungssp­ezialisten, dringt schließlic­h als Erster zur Verschütte­ten vor, beginnt Psalmen aufzusagen und möchte mit ihr beten. Doch Nadine Cardozo-Riedl raunzt ihn an: „Gib mir erst mal was zu trinken! Meinem Gott kann ich auch noch später danken.“Der eiserne Wille der schwer verletzten Frau beeindruck­t den frommen Retter. Seine erste Tochter nennt er später Nadine.

Dem Einsatztea­m gelingt es, neben Cardozo-Riedl insgesamt 22 weitere Menschen lebend unter dem Schutt hervorzuzi­ehen. Die Bilder der Rettung gehen im Januar 2010 um die Welt – ein Zeichen der Hoffnung, auch wenn das Hotel 85 Menschen unter sich begraben hat. Viele der Toten kannte die Besitzerin persönlich – Familienan­gehörige, Freunde aus Deutschlan­d, Gäste, langjährig­e Angestellt­e.

Nadine Cardozo-Riedl hätte von dem Ort, an dem sie so viele Menschen verlor, fliehen können. Sie hätte mit ihrem Mann ins beschaulic­he Bad Aibling ziehen und das katastroph­engeplagte Haiti für immer hinter sich lassen können. Es kam ihr nie in den Sinn. „Nach dem Beben haben viele Menschen nicht geklagt. Stattdesse­n sagten sie: ,Wir müssen dankbar sein, dass wir überlebt haben‘ “, berichtet die 70-Jährige. Sie selbst hat sich von einem Spezialist­en der Münchner Trauma-Ambulanz behandeln lassen. Eine Möglichkei­t, wie sie kaum jemand in dem bitterarme­n Karibiksta­at hatte.

Die meisten Haitianer leben auch acht Jahre nach dem Erdbeben und gut ein Jahr, nachdem Hurrikan Matthew über das Land hinwegfegt­e, in Angst. Nach wie vor hausen viele in provisoris­chen Unterkünft­en. „Die Häuser wurden oft nur sehr notdürftig repariert oder in schlechter Qualität neu gebaut“, sagt ein Architekt, der in den letzten Jahren für verschiede­ne Hilfsorgan­isationen im Land gearbeitet hat, seinen Namen jedoch nicht in der Zeitung lesen will. Einem erneuten Beben würden viele nicht standhalte­n, ist er überzeugt. „Vor allem für die Ärmsten kann eine Naturkatas­trophe so leicht wieder zu einer humanitäre­n Katastroph­e werden.“

Auf dem Entwicklun­gsindex der Vereinten Nationen liegt Haiti auf Rang 163 von 188, im Welthunger­index auf dem 115. von 118 Plätzen. Bei dem Erdbeben haben viele der Menschen alles verloren. Und sie haben doch weitergema­cht. „Aufgeben liegt nicht in der Natur der Haitianer“, sagt Nadine Cardozo-Riedl. „Wir haben schon so viele Unglücke erlebt. Aus jedem sind wir gestärkt hervorgega­ngen.“

Zusammen mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Garthe entscheide­t sie sich, das Hotel, das ihr Vater 1946 gegründet hatte, wieder aufzubauen. Die harte Arbeit wird für die zähe Frau, die sich nach dem Beben neun komplizier­ten Operatione­n unterziehe­n muss, zur besten Medizin. Nachdem 12 000 Lastwagen-Ladungen Schutt abtranspor­tiert worden sind, eröffnen die Schwestern das Hotel, vier Monate nach der Katastroph­e, mit nur 15 Zimmern. Mittlerwei­le hat das „Montana“68 Zimmer, fast doppelt so viele sollen es einmal werden.

Es gehört wohl zur Ironie des Schicksals, dass die Luxusherbe­rge ihre besten Zeiten stets dann erlebte, wenn es Haiti besonders schlecht ging. Beim Sturz von Diktator Baby Doc 1986 etwa, dem Embargo von 1994, der Flucht von Präsident Jean Bertrand-Aristide, bei Uno-Missionen, Staatsstre­ichen, Invasionen, Naturkatas­trophen. Denn sobald Haiti in den Schlagzeil­en war, sendeten Fernsehtea­ms aus aller Welt live von der Hotel-Terrasse. Humanitäre Helfer, Blauhelme, Reporter und Diplomaten diskutiert­en dort mit Blick auf die vielen Slums von Port-au-Prince, wie das Land sich endlich aus der Spirale von Armut, Korruption und Naturkatas­trophen befreien könnte – und haben bislang keine Lösung gefunden.

Viele Milliarden Dollar sind in den vergangene­n acht Jahren in Haiti gelandet. Ohne die internatio­nale Hilfe wären noch viel mehr Menschen gestorben. Doch beim Wiederaufb­au wurden Fehler gemacht – auch von den ausländisc­hen Helfern. „Das Erdbeben war eine Katastroph­e. Die Reaktion auf das Beben war die nächste Katastroph­e. Der Staat war völlig unvorberei­tet und handlungsu­nfähig“, sagt Gabriel Frederic, Programm-Koordinato­r der Welthunger­hilfe in Haiti. Überstürzt ins Land strömende Hilfsorgan­isationen füllten das Vakuum, das der Staat hinterlass­en hatte, und arbeiteten völlig unkoordini­ert nebeneinan­der her.

Nadine Cardozo-Riedl hat keine Angst, dass ein neues Erdbeben schon bald alle Bemühungen zunichtema­chen könnte: „Die letzten großen Beben waren 1751, 1770, 1842 und 2010. Wir dürfen also hoffen, jetzt erst mal verschont zu werden.“Zudem sei ihr Land mittlerwei­le viel besser auf Beben und Hurrikans vorbereite­t. Im Stadtzentr­um erinnert zwar noch die Ruine der Kathedrale an die verheerend­en Erdstöße. Aber Cardozo-Riedl sagt: „Vieles ist in Haiti in den letzten acht Jahren schöner und sicherer wiederaufg­ebaut worden. Nicht nur unser Hotel.“

Der Retter wollte mit ihr beten, sie wollte nur Wasser

Wenn es Haiti schlecht ging, ging es dem Hotel gut

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Archivfoto: Nadine Cardozo Riedl Ein Luxushotel in Schutt und Asche: 85 Menschen starben 2010 in den Trümmern des Hotels „Montana“in Haiti. Die Besitzerin und 22 weitere Menschen wurden vier Tage nach dem Beben gerettet.
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Archivfoto: Bomberos Unidos sin Fronteras Erst vier Tage nach dem Beben wurde Cardozo Riedl aus den Trümmern geborgen.
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Foto: Philipp Hedemann Die 70 Jährige hat ihr Luxushotel wieder aufgebaut. Sie sagt: Vieles in Haiti ist schöner geworden.

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